Über 60 Masernfälle gab es dieses Jahr schon in Prenzlauer Berg. Kita-Kinder sind gefährdet, nun wird die Impfpflicht diskutiert.
In Prenzlauer Berg hat es seit Beginn dieses Jahres bis Mitte April 62 Masernerkrankungen gegeben. Damit sind in den vier Monaten fast doppelt so viele Menschen erkrankt wie im gesamten ersten halben Jahr 2013 – das Jahr wiederum war jenes mit dem stärksten Masernausbruch seit 2006. Die Zahlen, die das Gesundheitsamt des Bezirksamts Pankow jetzt auf Anfrage mitteilte, machen deutlich, dass sich die Masernepidemie im Bezirk nur schwer unter Kontrolle bringen lässt. Von einer „Durchseuchung“ spricht der Amtsarzt Uwe Peters. Besonders betroffen sind wie schon in den vergangenen Jahren Kinder von Eltern mit höherem Sozialstatus. Eine formal höhere Bildung geht hier offenbar unbeschadet aller Krankheitsfälle weiterhin in überdurchschnittlich vielen Fällen mit einer medizinisch nicht begründbaren Impfskepsis einher.
Auch in den anderen innerstädtischen Regionen des Bezirks gibt es vergleichbar hohe Zahlen bei den Ausbrüchen. Laut Amtsarzt Peters hat es in den etwas bevölkerungsärmeren Stadtteilen Pankow und Weißensee 43 und 42 Erkrankungen gegeben, ähnliche Prozentzahlen weise der Rest des Bezirks auf. Immerhin ist Pankow nicht Spitzenreiter bei den Erkrankungen – man stehe an fünfter Stelle der zwölf Berliner Bezirke, sagt Peters. Allerdings wurde aus anderen Bezirken schon über Schließungen von Kitas berichtet, in denen Krankheitsfälle auftraten. In Pankow habe es das laut Uwe Peters noch nicht gegeben. Hier scheint die Faustregel zu gelten: Ist erstmal ein Kind erkrankt, sind die möglichen Ansteckungen sowieso schon geschehen. Man ist da also machtlos.
Erkrankungen könnten Impfbereitschaft steigern
Das Problem der überdurchschnittlichen Impfverweigerungsraten in Familien mit vermeintlich höherem Bildungsgrad existiert in ganz Deutschland schon länger, und nicht umsonst wird Prenzlauer Berg immer wieder als exemplarisches Beispiel herangezogen. Schon vor zwei Jahren klagte die Gesundheitsstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz (SPD) darüber, dass bei den Einschulungsuntersuchungen 2011 die Zahl der nicht gegen Masern geimpften Kinder im Gebiet um den Helmholtzplatz und im Nordwesten des Bezirks bei 15 Prozent lag, im ganzen Bezirk Pankow hingegen nur bei sechs. „Ungeimpfte Kinder im Bezirk Pankow haben in der Regel Eltern, die sich bewusst gegen eine Impfung entschieden und im Vorfeld theoretisch damit auseinandergesetzt haben“, sagte die Stadträtin damals. Daran, so Amtsarzt Peters, habe sich bis heute auch nichts geändert.
Der aktuelle Einschulungsbericht des Bezirks allerdings macht ein wenig Hoffnung: Demnach sind die Durchimpfungsraten 2012 und 2013 leicht gestiegen – allerdings nur im Promillebereich. Neuere Zahlen, so Uwe Peters, lägen derzeit noch nicht vor. Dass mehr Eltern 2013 ihre Kinder impfen ließen, lässt den Schluss zu, die damalige Erkrankungswelle habe bei Einigen zum Sinneswandel geführt. Die Idee, Masern seien eine harmlose Kinderkrankheit, lässt sich erfahrungsgemäß leichter vertreten, wenn es sich nur um eine theoretische Diskussion handelt. Uwe Peters kann sich vorstellen, dass auch mit der aktuellen Epidemie die Bereitschaft zur Impfung wächst. „Wir hoffen das jedenfalls.“
Impfverweigerer kaum erreichbar
Generell scheint das Prinzip Hoffnung ein tragendes zu sein, geht es um den Umgang mit Masernerkrankungen in den Kindertagesstätten des Bezirks. Während aus anderen Berliner Bezirken von Kitas berichtet wird, die ihre Einrichtungen wegen Masern schließen, geht man in Prenzlauer Berg und dem Rest des Bezirks diesen Weg nicht. Schließungen seien möglich und lägen im „Ermessenspielraum des Gesundheitsamtes“, sagt Uwe Peters. „Andere Bezirke haben das gemacht, wir nicht.“ Uwe Peters begründet das mit medizinischen Unwägbarkeiten. Träten Masern auf, wäre eine Reaktion sinnlos, sei es die Schließung der Kita oder die Aussperrung ungeimpfter Kinder – die Ansteckung wäre nämlich höchstwahrscheinlich sowieso schon erfolgt. Die Inkubationszeit bei Masern beträgt zwei Wochen.
Faktisch werden die Prenzlauer Berger Kitas damit zum Hort unfreiwilliger Masernpartys, bei denen zum einen „freiwillig“ ungeimpfte Kinder einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt werden und vor allem jene, die noch zu jung für eine Impfung sind und nicht mehr über den „Nestschutz“ der Mutter verfügen. Uwe Peters räumt ein, dass dies aus ärztlicher Sicht „unbefriedigend“ sei. Er plädiert daher für eine Impflicht. „Ich würde das befürworten.“ Die Idee gewinnt allgemein in der Gesundheitspolitik angesichts der aktuellen Erkrankungswelle gerade an Fahrt. Ärztevertreter fordern die Pflicht, Kinderärzte bringen ins Spiel, dafür auch die Verfügungsgewalt der Eltern über ihre Kinder einschränken zu wollen und Impfverweigerung als Körperverletzung zu klassifizieren.
Ein langer Weg zur Ausrottung
Vom Bundesgesundheitsministerium wird mittlerweile immerhin eine verpflichtende Impfberatung ins Spiel gebracht, die wohl aber jene, die erreicht werden müssten, kaum ansprechen kann. In beliebten Internetforen von Impfverweigerern gehören schließlich haarsträubende Theorien zum Repertoire, die Ärzte, Politik und Pharma-Industrie als Akteure einer „Impfverschwörung“ sehen. Fakten bewirken da wenig, Empfehlungen von Medizinern noch weniger. Bis zur Ausrottung der Masern, wie es bei den Pocken auch dank Pflichtimpfungen in beiden deutschen Staaten gelungen ist, wird es also noch ein langer Weg sein. 1036 Erkrankungen habe es in Berlin in diesem Jahr bis jetzt gegeben, teilte das Landesamt für Gesundheit und Soziales gerade mit. Jeder vierte Patient musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Einer starb.
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