In der Kastanienallee ist es offiziell zu laut. Das Land lehnt Tempo 30 trotzdem ab – Trams seien als Lärmquelle irrelevant. Nach einer Pleite vor Gericht bezüglich der Radwege könnte nun deswegen ein weiteres Verfahren folgen.
Die Richter müssen sehr vergnügt gewesen sein, und schuld war die Verkehrslenkung Berlin (VLB), eine der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung unterstellte Behörde. Die VLB stand als Beklagte im Spätsommer dieses Jahres vor dem Verwaltungsgericht Berlin, und das am 29. September verkündete Urteil atmet den Geist einer ordentlichen Klatsche.
Genüsslich, so ist nur unschwer zwischen den Zeilen zu lesen, zerlegten die Richter also die Begründung der VLB, warum in der Kastanienallee Radfahrer verpflichtet seien, den Radweg zu benutzen. Gegen diese nach dem hochpolitischen Umbau beschlossene Änderung klagte ein Anwohner – und er bekam in nahezu jedem Punkt recht. Seitdem dürfen Radfahrer wieder auf der Straße fahren. Auf das Urteil wird noch einmal zu sprechen kommen sein – zunächst aber auf einen anderen Streitfall, der sich ebenfalls mit der VLB und der Kastanienallee beschäftigt und sich gerade seinen Weg vor Gericht zu bahnen scheint. Beide Fälle haben eine Gemeinsamkeit: Es geht um fragwürdige Entscheidungen der Verkehrslenkung. Und darum, dass Tempo 30 in der Kastanienallee doch wieder möglich erscheint. Eine Forderung, die die gerade vermöbelte VLB seit Jahren ablehnt, Anwohner und Bezirk aber umso vehementer erheben.
Im Mai 2012, also noch während der Umbauphase der Kastanienallee, nahm ein Anwohner der Straße Kontakt mit der Verkehrslenkung Berlin auf. Seinen Namen will der Jurist nicht genannt sehen – er verweist auf das schwebenden Verfahren. Bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung stellte er den Antrag auf eine Lärmmessung in der Kastanienallee. Er vermutete, zu Recht, dass in der Straße gesetzliche Lärmgrenzen überschritten würden und forderte ein Tempo-30-Limit von 22 bis 6 Uhr – eine Möglichkeit, die grundsätzlich jedem Bürger offensteht. Lange passierte danach nichts, es wurde von der Verwaltung darauf verwiesen, dass zuverlässige Messungen erst möglich seien, wenn der Umbau der Straße abgeschlossen sei. In diesem Frühjahr, zwei Jahre nach dem ersten Antrag und dem Einschalten einer Anwältin, bekam der Anwohner schließlich eine Antwort von der Senatsverwaltung, mit einem Lärmgutachten, beides liegt der Redaktion vor. Das Gutachten brachte dabei deutliche Ergebnisse – und einen überraschenden Schluss.
Grenzwerte werden nachts offiziell überschritten
Für die Untersuchung wurde zunächst der Ist-Zustand gemessen – welcher Lärm herrscht an den Häuserfassaden bei der derzeitigen Verkehrssituation? Erhoben wurde das am 19. März dieses Jahres, einem Mittwoch. Auf Grundlage von Modellrechnungen wurde des Weiteren die Lärmbelastung bei Tempo 30 prognostiziert. Als zulässige Grenzwerte wurden – auf Grundlage der maßgeblichen Verordnungen und Gesetze – tagsüber 70 Dezibel definiert, nachts 60 Dezibel (Schallwerte verlaufen nicht linear: Eine Erhöhung um 10 Dezibel, so die Faustformel, wird als Verdopplung der Lautstärke wahrgenommen). Gemessen und prognostiziert wurde dabei für jede einzelne Hausnummer von 1 bis 103. Die Tageswerte waren dabei allesamt im zulässigen Bereich. Sie reichten von maximal 66,9 am Einmündungsbereich der Schönhauser Allee bis minimal 63,9 auf Höhe des GLS Sprachenzentrums. Nachts waren die Werte zwar geringer – aber über der maßgeblichen 60-Dezibel-Marke. Sie reichten von mindestens 60,4 Dezibel bei der Hausnummer 10 bis 62,6 an der Einmündung zur Schönhauser. Lärmwerte werden nachts also überschritten.
Doch für eine Anordnung von Tempo 30 reiche das nicht, so die Verkehrslenkung. Sie beruft sich dabei auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgericht von vor mehreren Jahren, in dem dargelegt wird, dass Verkehrsbeschränkungen nur zulässig seien, wenn diese von Kraftfahrzeugen ausgingen, nicht aber von Trams. Im Umkehrschluss hieße das, dass der Lärm durch Straßenbahnen von den gemessenen Werten abgezogen werden müsste – und damit keine Überschreitungen mehr festzustellen wären. Es gäbe also keinen Grund, Tempo 30 in der Kastanienallee anzuordnen, so die Beurteilung der VLB. Die abgesehen davon im gleichen Gutachten konstatiert, dass mit Tempo 30, das auch für Trams gelten würde, keine Lärmwerte mehr überschritten würden, sondern nachts um die 58 Dezibel zu hören wären.
Der Antragssteller ist gewillt, nun gegen die VLB vor Gericht zu ziehen. Gerade läuft eine Untätigkeitsklage, mit der ein rechtsgültiger Bescheid von der Behörde erzwungen werden soll – der ist Voraussetzung für eine Klage. Und sollten die Erwägungen der VLB, die der Ablehnung von Tempo 30 zugrunde liegen, ähnlich wasserdicht seien wie die Begründung für die gerade richterlich aufgehobene Radwegbenutzungspflicht, stehen die Chancen für den potenziellen neuen Kläger nicht schlecht.
Gericht sieht keine besonderen örtlichen Verhältnisse
Der Kläger gegen die Benutzungspflicht ist selbst Verkehrsplaner. Auch er will ungenannt und unzitiert bleiben. Das ist deswegen leicht möglich, weil in der Urteilsbegründung der Berliner Verwaltungsrichter seine Argumentation weitgehend uneingeschränkt bestätigt wird.
Im Kern werden der VLB mehrere Fehler vorgeworfen. So habe sie erstens nicht dargelegt, warum in der Kastanienallee eine Benutzungspflicht für den Radweg angezeigt sei. Dafür nämlich müsse „eine Gefahrenlage vorliegen, die – erstens – auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen ist und – zweitens – das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der relevanten Rechtsgüter Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern sowie öffentliches und privates Sacheigentum erheblich übersteigt“. Beides sei in der Kastanienallee nicht der Fall. Im Gegenteil: Erst die Benutzungspflicht des Radwegs führe dazu, dass die Gefahrenlage in der Straße erhöht werde, so das Gericht. Es verweist auf die von Beginn an strittige Lösung in der Kastanienallee, bei der die schmalen Radwege über die vorgelagerten Tram-Haltestellenkaps geführt werden. Hier bestehe, vor allem bei ortsunkundigen Touristen, das Risiko von Kollisionen mit Radlern. Dieses Risiko, und das ist das zweite Kernargument der Richter, sei nicht ordentlich abgewogen worden. Explizit ist im Urteil davon die Rede, dass die Unfallgefahr für überholende Radfahrer auf der Straße geringer sei als solche, die an Haltestellen vorbeiführen.
Bezirk will Tempo 30, ist aber über Urteil verärgert
Zu Tempo 30 wird im Urteil keine Aussage gemacht. Aber es stellt sich die Frage, welche Konsequenz aus der Aufhebung der Radbenutzungspflicht folgen. Ein Umbau oder neue Verkehrsregelungen kommen nicht in Frage, es wird also mehr Verkehr auf der Straße geben. Was das heißt, war in den letzten Tagen schon zu beobachten: Autofahrer wollen Radler von der Straße hupen, weil sie nichts von der neuen Regelung wissen, Radler fühlen sich bedrängt, die Aggressivität steigt. Damit einher geht – auch das ist vom Gericht festgestellt worden – dass die Radwege auffällig schmal gestaltet sind.
Was wiederum auf etwas verweist, das nicht wenige Kritiker als Ursprungsfehler der Kastanienallee-Umbauplanungen bezeichnen und wohl ursächlich für Ausweichbewegungen von Radlern auf die Straße ist: Die widersprüchlichen Annahmen zur Zahl der Radfahrer seitens der VLB. 2009, vor dem Umbau, erklärte sie in der Bezirksverordnetenversammlung Pankow auf eine Kleine Anfrage hin, dass sie von rund 2.000 Radfahrern pro 12 Stunden ausgehe und dies in die Planungen für den Umbau eingeflossen sei – Grundlage waren Messungen in zwei Wintermonaten. Im VLB-Jahresbericht von 2009 wurde die Zahl der Radfaher in Spitzenzeiten mit 7.000 angegeben. Der Schluss, dass der Radweg von vornherein zu klein geplant wurde, ist da nicht unbedingt abwegig. Kurz: Will man dem perspektivisch zunehmenden Verkehr in der Kastanienallee gerecht werden und die Unfallgefahr senken, ist ein Tempolimit vor Gericht nicht unbedingt als völlig unbegründet von der Hand zu weisen.
Der für Stadtentwicklung zuständige Stadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne) ist zwar, genau wie die Mehrheit der Bezirksverordnetenversammlung, schon lange ein Verfechter von Tempo 30 in der Straße und will das erklärtermaßen auch weiterhin auf den Weg bringen. Das neueste Gerichtsurteil könnte Kirchner also in die Karten spielen, erfreut ist deswegen allerdings nicht. „In der Sache völlig daneben“, lautet Kirchners Kommentar dazu. „Wir haben die Kastanienallee unter anderem umgebaut, damit die Radfahrer nicht mehr zwischen den Schienen fahren, jetzt wird genau diese Situation wieder herbeigeführt.“ Für Kirchner hat das Urteil die Gefährdung von Radfahrern in der Kastanienallee erhöht – auch Tempo 30 könne daran nicht viel ändern.
Lärmaktionsplan soll Straßenbahn-Lärm beschränken
Zum von der VLB vorgelegten Lärmgutachten und der Nichtberücksichtigung des Straßenbahnlärms meint Kirchner, „dass es an der Stelle regelrecht ironisch wird“. Er verweist auf den Lärmaktionsplan des Landes Berlin, dessen neueste Version seit vergangenem Jahr und noch bis 2018 gilt. Im Plan wird Lärm durch Straßenbahnen ausdrücklich als zu reduzierende Lärmquelle genannt, mit niedrigeren Toleranzwerten, als sie in der Kastanienallee jetzt gemessen wurden. Es seien „geeignete Maßnahmen“ zu ergreifen, um diesen Lärm zu reduzieren, heißt es, zuvorderst werden bauliche Maßnahmen genannt. Dass die in der Kastanienallee bald anstehen, kann aber wegen des gerade abgeschlossenen Totalumbaus ausgeschlossen werden, auch Stadtrat Kirchner tut das.
Genau wie der potenzielle Kläger gegen den Lärm meint Kirchner, dass den Interessen von Autofahrern in der Verkehrslenkung Berlin ein Stellenwert eingeräumt werde, der mit dem aktuellen politischen Diskussionsstand, Autoverkehr in der Innenstadt weniger Priorität zu gönnen, nicht mithalte. „Das ist der VLB auch nicht vorzuwerfen“, sagt Kirchner. „Die setzten geltendes Verkehrsrecht um, und machen nicht selbst Verkehrspolitik. Die Impulse müssen vom Gesetzgeber kommen.“ Er sei diesbezüglich aber zuversichtlich.
Kommt es zu Fahrtzeitverzögerungen?
Die Senatsverwaltung erklärte auf Anfrage, dass sie keine Revision gegen das Radwege-Urteil einlegen wird. Im möglicherweise bald laufenden Prozess wegen der Lärmbelastung zeichnet sich bereits jetzt ein Hauptargument seitens der VLB gegen eine Tempo-30-Beschränkung ab, es wurde nämlich bereits dutzendfach genannt: Das Limit führe zu nicht akzeptablen Verzögerungen bei den Straßenbahnen, von bis zu 30 Minuten für nächtliche Fahrgäste mit Anschlussverbindung ist da immer wieder die Rede. Die Tempo-30-Befürworter halten diese Schätzung für weit übertrieben, und tatsächlich zeigt eine einfach Berechnung, dass die Zeitersparnis auf der Kastanienallee durch das (nur selten erreichte) Höchsttempo 50 im ein- bis zweistelligen Sekundenbereich liegt.
Kirchner schätzt, dass es der BVG eher darum geht, Präzedenzfälle zu vermeiden. Würde wegen Lärms in der Kastanienallee Tempo 30 angeordnet werden, könnten weitere Straßen leicht folgen. „Und dann summieren sich die Verzögerungen zu einer relevanten Größe.“ Die BVG erklärte auf Anfrage, dass „Auswirkungen der zeitlich auch noch unterschiedlichen Tempo-30-Regelungen auf der Kastanienallee“ auf die Schnelle nicht abgeschätzt werden könnten. Zudem hänge die Fahrtzeit von sehr vielen Faktoren ab. „Auf Strecken ohne eigenes Gleisbett kommt als wesentlicher Faktor natürlich noch die Dichte des Individualverkehrs hinzu.“ Und der wird nach dem jüngsten Gerichtsurteil auf der Kastanienallee definitiv zunehmen.