Benjamin Kohzer spricht von der Kinolandschaft Prenzlauer Bergs wie ein Weinkenner von einer Spitzenlage. Der Mann muss es wissen: Er kennt jeden Kinosaal Berlins. Wir sprachen mit ihm über Tacos, Ladenkinos und Multiplexe.
In Prenzlauer Berg ins Kino zu gehen, fühlt sich ja manchmal wie eine Tautologie an: Schließlich lebt man hier in einer einzigen Filmkulisse, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Schlecht ausgeleuchtet steht man mit Daniel Brühl oder Milan Peschel in der selben Schlange im Supermarkt, ignoriert geflissentlich jede Filmkamera, die im Weg herumsteht (mehr hier und hier, Stichwort „Kulisse“), und schließlich sitzt man an einer historischen Quelle: Max und Emil Skladanowsky drehten von einem Dach in der Schönhauser Allee in den 1890er Jahren die allerersten Filmaufnahmen in Deutschland überhaupt. Prenzlauer Berg hat nicht nur Kinogeschichte, Prenzlauer Berg ist Kinogeschichte, und nein, drunter machen wir es nicht.
Wer nun aber ganz einfach mal wissen will, welche Kinos es hier überhaupt gibt oder früher einmal gab, welche Geschichte hinter jedem dieser Gebäude steckt und ob sich ein Besuch auch filmunabhängig lohnen könnte, der kommt um Benjamin Kohzer nicht herum. Zusammen mit Christian Kitter gründete er 1998 die Website Kinokompendium.de. Hier wird jeder einzelne Saal jedes Berliner Kinos gewürdigt und nach bestimmten Kriterien bewertet. Inzwischen geschlossene Kinos sind extra aufgeführt, es gibt eine Literaturliste und Erklärungen technischer Fachbegriffe. Das Ganze unkommerziell und unabhängig – und natürlich von Prenzlauer Berg aus.
Die fabelhafte Welt des Benjamin K.
Ich treffe Kohzer, 1974 geboren und hauptberuflich seit zehn Jahren Regieassistent bei verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen, in einem Café in der Gleimstraße unweit des Colosseum. Seit acht Jahren wohnt der in Neukölln aufgewachsene Spielberg- und Amélie-Fan hier um die Ecke. Er trägt ein schwarzes Hemd zur schwarzen Hose, eine schwarz umrandete Brille und wirkt alles in allem wie jemand, der unter günstigen Umständen unwillkürlich und geräuschlos mit einem abgedunkelten Kinosaal verschmelzen kann. Und das tut er, sobald das Filmlogo auf der Leinwand erscheint. Kino, sagt er, sei für ihn das Betreten einer „anderen Welt“.
Was ihn aber nicht davon abhält, penibel auf Raum und Technik im Hier und Jetzt zu achten: Passen der Sound und die Projektion? Haben Kniescheiben und Ellenbogen genügend Platz? Gleicht die Gesamtatmosphäre eher einem Atomschutzbunker, und wie ist es um den „Magic-Johnson-Faktor“ bestellt?
Und dann noch dieser Basketballer direkt vor der Nase
Benannt nach dem amerikanischen Basketballspieler Earvin „Magic“ Johnson Jr. (Körpergröße: 2,06 Meter) bestimmt dieser überaus entscheidende Faktor, wie viel man von der Leinwand noch sieht, wenn man direkt hinter einem hochgewachsenen Menschen sitzt. Gut, manchmal hat man eben Pech. Aber kein Pardon kennen Kohzer und Kitter beim Abbruch des Abspanns, bei Störgeräuschen wie Straßenlärm und unbotmäßigen Lichtquellen. Am meisten wundert sich Kohzer darüber, „womit sich das Publikum oft zufrieden gibt: mit Fusseln und Unschärfen, und keiner sagt was“. Er natürlich schon. Und oft habe seine Kritik auf „Kinokompendium“ zu Besserungen geführt, bemerkt er nicht ohne Stolz.
Aber das klingt jetzt viel nörgeliger, als es ist. In erster Linie ist Kohzer nämlich begeistert. Von Lieblingskinos will er zwar nicht sprechen, um niemandem Unrecht zu tun, aber zum Beispiel den Saal 1 im Colosseum oder Saal 2 im FaF, die seien schon „einen Besuch wert“. Natürlich schneiden winzige Kinos wie das Downstairs in der Schliemannstraße, das Krokodil in der Greifenhagener und das Lichtblick in der Kastanienallee in Sachen Magic-Johnson-Faktor nicht optimal ab. Dafür zeigen sie Originalfassungen, Klassiker und Raritäten, die sich Kohzer lieber im Kino als auf DVD ansieht.
Dass man bei einer zunehmenden Anzahl von Filmstarts zumindest eine Woche lang die Chance habe, auch noch den kleinsten und speziellsten Film irgendwo sehen zu können, das sei zwar ein klarer Vorteil von Berlin allgemein. Charakteristisch für den Kinostandort Prenzlauer Berg aber, meint Benjamin Kohzer, sei „die ganze Bandbreite vom kleinen Nischenkino über Arthouse bis zum Multiplex“ auf relativ kleinem Raum. Außer den genannten drei Zwergen gibt es eben auch das Kino in der Kulturbrauerei, das Filmtheater am Friedrichshain (FaF) und das UCI Kinowelt Colosseum. „Klar haben auch andere Bezirke schöne kleine Kinos, aber nicht diese Mischung. Kreuzberg hat zum Beispiel kein Multiplex.“
Olle Kamelle: Public Viewing
Diese Ausdifferenzierung ist keine Ausgeburt der jüngsten Zeit; sie hat hier im Gegenteil Tradition und konnte sich, wie ja letztlich auch die Bausubstanz, über die Kriege und das Kinosterben der 1970er und 1980er hinweg erstaunlich gut retten. Wie man in dem vom Prenzlauer Berg Museum herausgegeben Büchlein „Komm in den Garten – Kino in Prenzlauer Berg, Prenzlauer Berg im Film“ (Metropol Verlag) nachlesen kann, muss vor 100 Jahren zunächst einmal ein Hauch von Public Viewing in der Luft gelegen haben: Denn anfangs waren Ausflugslokale entlang der Schönhauser Allee die bevorzugten Spielstätten minutenlanger „lebender Bilder“, als Teil eines Varieté-Programms. Eine Akte namens „Bau-, Feuer und Sicherheitsangelegenheiten“ von 1898 listet alle 13 damals vorhandenen Kinematographen auf, darunter auch den Prater in der Kastanienallee. Bald aber existierten auch eigens gebaute, oft heillos überfüllte, riesige Saalbauten der örtlichen Brauereien neben immer mehr kleinen Ladenkinos, den so genannten „Flohkisten“. 1925 gab es 26 Kinos in Prenzlauer Berg.
Damit verglichen, ist die Zahl heute überschaubar. Von einem erneut drohenden Kinosterben will Kohzer zwar nicht sprechen, aber natürlich lasse sich mit einem Nischen-Kino kein Vermögen machen. 2010 musste das Blow up in der Immanuelkirchstraße aufgeben. Mit dem als Kollektiv geführten Lichtblick, 1997 nach alter Ladenkino-Tradition in einen alten Fleischerladen hineingebaut, kann Prenzlauer Berg heute aber immerhin schon lange und erfolgreich mit dem „kleinsten Ein-Saal-Kino Berlins“ aufwarten.
Nischen, Riesen, Krokodile
Auch das Krokodil ist ein Fossil aus alter Zeit: Es geht zurück auf das 1912 in ein Wohnhaus eingebaute Kino Nord und zeigt heute ein hochspezielles Programm mit russischen und osteuropäischen Filmen. Das noch und wieder existierende Colosseum an der Schönhauser Allee wurde 1924 in eine alte Wagenhalle integriert und diente nach dem Zweiten Weltkrieg dem ausgebombten Metropol Theater als Spielstätte. Beinahe abgerissen wurde das 1925 eröffnete Filmtheater am Friedrichshain, gekauft und gerettet hat es 1995 der Regisseur Michael Verhoeven. Und für Aufregung sorgte Ende der Neunziger Jahre die hochkochende „Kinodebatte“ um den geplanten Einbau eines Multiplexkinos in die Kulturbrauerei: Gegner befürchteten zu viele Autos und eine unnötige Konkurrenz fürs Colosseum.
Inzwischen, meint Kohzer, scheine doch alles friedvoll nebeneinander zu existieren, Stamm- und Laufkundschaften würden finden, was sie suchten. „Ich denke aber, die Kinolandschaft ist gesättigt“.
Wer mit offenen Augen durch Prenzlauer Berg spaziert, der sieht noch viele einstige Kino-Orte, in denen heute Zahnarztpraxen, Supermärkte oder Wohnungen untergebracht sind. Läden zu Kinos, Kinos zu Läden: Film- und Alltagswelt tauschen hier seit jeher ihre Kostüme. Benjamin Kohzer freut sich jedenfalls über „jedes, das erhalten bleibt“, und sei’s ein Multiplex mit Horden von Tacos essenden Teenagern. Auch die wollen ja letztlich nichts anderes als er: verschmelzen mit einer anderen Welt.
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