Eigentlich sollten Brigitte Eickes tägliche Notizen nur eine Steno-Übung sein. Dabei entwerfen sie ein präzises Portrait des Alltags in Prenzlauer Berg zwischen 1942 und 1945. Jetzt sind sie als Buch erschienen.
„Sonnabend. Ich habe mir in der Firma ein süsses Kleid gekauft, rot, mit weißen Pünktchen. Fliegeralarm von 12 – 1 Uhr mittags.“ So hat es Brigitte Eicke am 24. März 1945 in ihren kleinen Taschenkalender notiert. Seit über zwei Jahren führte sie damals schon ihr Tagebuch. Mit 15 hatte Eicke als lernbegieriger Bürolehrling eine Möglichkeit gesucht, regelmäßig Stenografie zu üben. Jeden Tag vermerkte sie in knappen Sätzen, was sie in ihrem Lebensraum zwischen der Immanuelkirchstraße, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und dem Arbeitsplatz am Hackeschen Markt erlebte. Wie es bei der Arbeit war, wie im Kino, wie lange die Luftangriffe dauerten. Eine Abschrift des Kalenders zwischen Weihnachten 1942 und Silvester 1945 ist nun unter dem Titel „Backfisch im Bombenkrieg“ bei Matthes & Seitz erschienen.
Mehr Einblick in den Kriegsalltag in Prenzlauer Berg kann man wohl nicht bekommen. In knappen Sätzen steht dort ungefiltert, was für die Jugendliche damals von Wichtigkeit war. Ein Tagesausflug mit dem Betrieb, der gutaussehende Nachbarsjunge, der Erwerb eines Schwimmscheins für den BDN und Hitlers Geburtstag. Aufräumen eines zerbomten Klassenzimmers, die Invasion in der Normandie gleich neben dem ausführlichen Bericht über ein gefundenes Portemonnaie mit 100 Reichsmark, und irgendwann dann täglich Vermerke über Luftangriffe. Die Russen in Reinickendorf, die vergewaltigte Tante. Der letzte Eintrag endet mit Ärger mit der Mutti, weil Brigitte erst um sechs von der Silvesterfeier nach Hause gekommen ist. Dazu all die Ortsangaben, die man so gut kennt. Nur dass der Platz an der Volksbühne nach Host Wessel benannt war, und der komplette Friedrichshain auch.
Erinnerungen, verborgen zwischen Stramplern und Wintersachen
Lange hielt Brigitte Eicke dieses Zeitdokument zwischen Wintersachen und Babystramplern verborgen. Schließlich waren die Notizen nur für sie selbst gedacht, eigentlich ja nur als tägliche Übung in Steno. Erst als sie 1993 eine Anzeige in der Zeitung sah, zog sie es hervor: Für die Ausstellung „Moskauer Zeit in Prenzlauer Berg“ des Prenzlauer Berg Museums wurden Aufzeichnungen und Fotos von Menschen gesucht, die hier das Ende des Krieges erlebt hatten. Eicke sandte die Abschrift ihrer Steno-Notizen ein, die sie noch Ende der 40er Jahre angefertigt hatte. Die Ausstellungsmacher Annett Gröschner, Barbara Felsmann und Grischa Mayer nahm dieses Dokument gleich gefangen.
Heute sind die drei die Herausgeber des Bandes. Neben einem ausführlichen Interview mit Eicke, die heute immer noch in Prenzlauer Berg lebt, tragen sie zum Buch viele Hintergrundinformationen bei. Auf jeder Seite erklären sie in einer Spalte, von welcher Straße, welchem Kinofilm oder welcher NS-Organisation hier die Rede ist. Jedem der unzähligen Fliegeralarme werden genaue Daten zugeordnet: Dauer, Opferzahlen, Zerstörung. Ein paar Fotos ergänzen die Bilder, die vor dem geistigen Auge automatisch entstehen.
Nicht beschönt und nicht vertuscht
Die Normalität, mit der der Besuch von Propagandaveranstaltungen, BDN-Abende und die Toten der Bombenangriffe neben dem Kauf neuer Kleider und Geburtstagsfeiern erwähnt wird, ist manchmal schockierend. Doch genau darin liegt der Wert dieser Aufzeichnungen. Hier wird nicht beschönt und nicht vertuscht. Nur manchmal hat Eicke bei Ihrer Abschrift Ende der 40er einen erklärenden oder relativierenden Satz hinzugefügt. Doch sie entschuldigt sich nicht für Ihre Jugend.
Das ZDF hat zuletzt viel Geld für den Fernsehdreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ ausgegeben, um den Kindern und Enkeln das Schicksal der Kriegsgeneration zu vermitteln. Am Ende des letzten Teils sind alle geläutert, von der Wehrmacht desertiert oder gar als Widerständler ermordet. Brigitte Eicke hingegen notiert zwei Tage vor dem offiziellen Kriegsende „Es beginnt jetzt die Nazi-Verfolgung, wie damals bei den Juden, was wird mit mir werden?“ Das ist bestechend ehrlich.
Brigitte Eicke: Backfisch im Bombenkrieg – Notizen in Steno. Herausgegeben von Barbara Felsmann, Annett Gröschner und Grischa Meyer. Matthes & Seitz, Berlin 2013. 388 Seiten, 29,90 Euro.