Das Haus in der Schönhauser Allee 52 ist eines von vielen und doch voller Geschichte. Zwei Künstler haben sie ausgegraben und zum Nachlesen an die Wände geschrieben. Am Wochenende kann man das besichtigen.
Die Haustür zur Schönhauser Allee 52 öffnet sich automatisch und auf Knopfdruck. Im Hausflur blitzen die frisch verputzten Wände mit dem neuen Aufzug um die Wette. Der Sisalteppich auf den blau gestrichenen Treppenstufen wirkt völlig unbenutzt. Dass dieses Haus bereits 120 Jahre auf dem Buckel hat, das erkennt man nur am eindeutig gründerzeitlichen Baustil. Die Kernsanierung der letzten Jahre hat alle Spuren der Geschichte weggewischt. Alle Spuren? Natürlich nicht. Geschichte hat doch manches gemein mit einem bekannten Dorf voller unbeugsamer Gallier.
Julia Brodauf und Felix Müller heißen die beiden Künstler, die der Geschichte beim Widerstand gegen die Sanierung unter die Arme gegriffen haben. In vielen Stunden haben sie die Vergangenheit des Hauses recherchiert und Gespräche mit Zeitzeugen geführt, deren Leben sich in den vergangenen Jahrzehnten rund um die Schönhauser abgespielt hat. Einige zentrale Zitate haben sich ausgesucht und verstreut im Treppenhaus an die Wände gemalt. Mittelgrau auf Hellgrau berichten sie nun vom Kohlgeruch im Treppenhaus, von Bombennächten und Hoffesten, vom verschwundenen jüdischen Nachbarn und von Festnahmen im Herbst 1989 an der Gethsemanekirche. An der Brandwand im Hof klagt ein Passant über die Gentrifizierung und ihre Folgen. „Inzwischen ist ja hier alles voller Schwaben“, steht da. „Wissense wat? Für mich bricht meine Heimat weg.“
Entmietung, das komplette Programm
Müller ist in Adlershof aufgewachsen und 1993 in die Wohnung im ersten Stock gezogen. Dass sie auf einer Höhe mit der Hochbahn liegt, wäre für manchen der Supergau des Lärms. Doch Müller hat es sich mit Absicht so ausgesucht, weil ihm das Urbane daran so gefällt. Später kam Brodauf dazu. Gemeinsam haben sie die erste Entmietungswelle ausgesessen, als der damalige Hausbesitzer alle Register zog, um die Altmieter loszuwerden. Drohungen, nächtliche Anrufe, das komplette Programm sei damals gelaufen, erzählt Müller. Doch gescheitert sei er letztendlich am Geld, weshalb er das Haus habe verkaufen müssen. Der neue Eigentümer sei ganz anders gestrickt: „Wir konnten ihn für das Haus und seine Geschichte begeistern.“ Im Angesicht der damals noch schäbigen Brandwand haben sie gemeinsam das Kunstprojekt entwickelt, das der Besitzer zum Großteil auch finanziert hat. Am kommenden Wochenende wird es pünktlich zum Gallery Weekend offiziell vorgestellt.
„Die Zitate sollen auf die Einzelschicksale, die Menschen hinter der Geschichte hinweisen“, erzählt Brodauf. Teilweise stammen sie aus historischen Dokumenten, teilweise aus Gesprächen, alle sind sie anonymisiert. Manches ist Hochdeutsch, manches Berlinerisch formuliert. Echt seien die Zitate alle, sagt Brodauf, wenn auch manches aus künstlerischen Aspekten angepasst worden sei.
Adressverzeichnis als Geschichtsbuch
Die Hintergrundinfos zum Haus, die in den nächsten Tagen auf einer Tafel im Hausflur angebracht werden, haben die beiden in Archiven und beim Prenzlauer Berg Museum zusammengetragen. Als besonders ergiebig erwies sich der Fachbereich Berlin-Studien der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, der alte Adressbücher digitalisiert hat. Da diese damals auch nach Straßen sortiert waren, und zusätzlich zum Namen auch der Beruf vermerkt war, wissen Brodauf und Müller heute, dass vor ihnen Zigarrenfabrikanten, Seifensieder und eine Schauspielerin, die später Souffleuse wurde, in der Schönhauser Allee 52 gelebt haben.
Auch ein altes Foto aus dem Haus entdeckten sie durch Zufall in einem Bericht der Krankenkassen über das Leben von Menschen mit Lungenleiden aus dem Jahr 1915: Ein Mann mit Schnurbart sitzt in einem Zimmerchen mit höchstens 1,60 Meter Deckenhöhe. Im Hinterhaus sei diese Kammer gewesen, er selbst habe sie vor der Sanierung noch gesehen, erzählt Müller. Heute ist der Raum, wie die meisten alten Wände und Raumstrukturen des Hauses, verschwunden.
Jemand war vor dir da
„Freundlich und verhalten“, so beschreibt Brodauf die Reaktion der Nachbarn darauf, dass ihr Wohnhaus nun ein begehbares Geschichtsbuch ist. Besonders der Spruch an der Brandwand und der Hinweis auf die Verdrängung der Alten seien auf Skepsis gestoßen. „Dabei greifen wir niemanden an, sondern sagen, wie es ist.“ Hier sollen keine Fronten aufgemacht werden, kein Ost-West-Urberliner-Zugezogenen-Diskurs, sondern die einfache Erkenntnis vermittelt: Vor Dir hat hier schon mal jemand gelebt. „Demut vor der Geschichte“, nennt Müller das.
Am Fuß der Brandwand wurde zuletzt Efeu gepflanzt. Langsam wird es des Schwaben-Zitat überwuchern, als Zeichen, dass auch der aktuelle Zustand der Veränderung durch die Zeit ausgesetzt ist.
Julia Brodauf und Felix Müller begleiten ihr Kunstprojekt mit einem Blog.
Besichtigt werden kann „Leben an der Schönhauser“ in der Schönhauser Allee 52 am Samstag, 27. April von 12 bis 20 Uhr und Sonntag, 28. April von 14 bis 18 Uhr.
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