Die dunkle Ecke

von Thomas Trappe 24. Oktober 2013

Im Osten Prenzlauer Bergs liegt der Mühlenkiez. Hier verirrt sich niemand hin, der nicht muss. Jetzt stellt eine Studie die Frage, wie es mit dem Viertel weitergehen soll.


Eine schöne Fassade hat das Selbstmordhochhaus. In den letzten Jahren wurde hier umfangreich erneuert und gepinselt, im ganzen Viertel, und das sehr hohe Haus in der Mitte wurde dabei natürlich nicht ausgelassen. Das Selbstmordhochhaus: So wird es von Manchem im Viertel genannt, offenbar, weil es da mal ein paar entsprechende Vorfälle gab. Man schaut jetzt etwas ratlos nach oben, – das ist als der Ausgangspunkt für den Kiezspaziergang mit drei Sozialarbeitern, der von einer immer wieder formulierten Frage begleitet wird. „Was soll man hier machen?“ Häuserfluchten, rechte Winkel, schnurförmige Wege, Kastenformen, wo man hinsieht. Alles hier ist parallel. Der Mühlenkiez: Eine Prenzlauer Berger Parallelgesellschaft.

Die drei Sozialarbeiter sind vom Gangway e.V., einem Verein für Straßensozialarbeit, sie betreuen Prenzlauer Berg und Weißensee. Ihr Büro findet sich im Mühlenkiez, dem 7000-Einwohner-Quartier zwischen Greifswalder und Storkower Straße, Michelangelo- und Kniprodestraße. Ein Viertel, in das sich niemand verirrt, der hier nicht hin muss, und selbst die Sozialarbeiter, denen eine gewisse Affinität zu Problemlagen zu unterstellen ist, scheint die Lethargie dieser Plattenbauinsel zu langweilen. Anne Honeck, die dienstälteste der drei, kam vor sieben Jahren hierher, vorher machte sie Sozialarbeit auf den Straßen Hohenschönhausens. „Ich dachte, ich komme jetzt in einen innerstädtischen Kiez, nach Prenzlauer Berg eben“, erinnert sie sich. „Aber dass es sowas hier gibt, hätte ich nicht gedacht. Eine Stadt in der Stadt.“ Honeck will, dass sich im Kiez was tut. Seit sieben Jahren. Honeck braucht Geduld. Doch die hat sie als Sozialarbeiterin.

 

Zwei Gruppen: Arme Familien und Rentner

Grund für den Rundgang mit den Leuten von Gangway ist, dass der Mühlenkiez gerade mit Zuneigung überhäuft wird. Ein Jahr lang beschäftigten sich 17 Studenten und zwei wissenschaftliche Mitarbeiter vom Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin mit dem Mühlenkiez, heraus kam eine dicke Sozialstudie mit dem bezeichnenden und optimistischen Titel „Ohne Moos was los! Zukunftsperspektiven für den Mühlenkiez“. Kürzlich wurde die Arbeit veröffentlicht, und in der Bezirksverwaltung soll sie Grundlage für weiteres Handeln sein. „Sie wird nicht in der Schublade verschwinden“, sagt Jeanette Münch.

Münch ist im Bezirksamt für die politische Beteiligung Jugendlicher zuständig, sie initiierte bei der TU das Projekt. Vor zwei Jahren, berichtet sie, kamen Sozialarbeiter auf sie zu und sprachen sich dafür aus, wenigstens einen der vier im Mühlenkiez vorhandenen Bolzplätze zu modernisieren, da alle vier inzwischen den Kampf gegen Wurzelwerk und Witterung verloren hatten. Der Vorschlag nahm den bezirksparlamentarischen Gang, und es zeigte sich schnell, dass es eigentlich um viel mehr geht. Senioren wollten bessere Wege, mehr Beleuchtung. Jugendliche Rückzugsräume. Mehr Lebensqualität. Einen Kiez mit Zukunft.

Im Mühlenkiez ist „eine schlechte und vor allem schlechter werdende soziale Situation zu diagnostizieren“, heißt es in der TU-Studie, dafür wurden unzählige Statistiken ausgewertet. „Viele Eltern fragen sich hier, wo sie die nächsten Winterschuhe für ihre Kinder herbekommen, ob das Geld für gesundes Essen reicht“, sagt Jeanette Münch. Sozial schwache Familien und Rentner, die hier schon wohnen, seit das Gebiet Mitte der 70er mit 3.200 Plattenbauwohnungen erstmals erschlossen wurde – das seien die beiden Gruppen, die das Viertel ausmachten. Zwei Schulen, die „besondere Fürsorge“ brauchten, gebe es, sagt Münch. Sie könnte auch von Brennpunktschulen reden. Sie mag das Wort aber nicht.

 

„Ein Kiezleben gibt es hier nicht wirklich“

Das ist die Lage. Jetzt steht man mit Anne Honeck vor dem Selbstmordhaus und zwei Tischtennisplatten, die es nicht mehr gibt. Jugendliche randalierten vor zwei Jahren, aus Langeweile offenbar, und seitdem sind die Platten weg. Zu stören scheint das wenig, denn woanders gibt es noch Platten – kein Mensch zu sehen an diesem warmen Herbstnachmittag. Das zeichnet den Kiez aus: Hier ist niemand. Auf dem Bolzplatz nicht, auf den Spielplätzen nicht, ein paar Rentner auf den endlos gerade Verbindungswegen. Woran erkennt man einen sozialen Brennpunkt? Im Mühlenkiez an der Abwesenheit eines sozialen Lebens. „Was soll man hier machen?“, fragt jetzt wieder ein Sozialarbeiter, Andreas Standke, der jüngste. „Wenn man nicht mehr auf den Spielplatz geht, hat man hier nicht mehr viele Möglichkeiten, außer dem Jugendclub“, sagt die andere Kollegin, Annett Krause. Fast wünscht man sich, dass hier wenigstens Leute abhängen würden, trinken oder kiffen, Jugendleben halt. Fehlanzeige. „Das ist ein Wohnviertel, ein Kiezleben gibt es hier nicht wirklich“, meint Anne Honeck.

In der Studie der TU haben Studenten eine Karte entworfen, sie zeigt auf, wie ältere Anwohner ihren Kiez wahrnehmen. Es geht dabei um die Straßenbeleuchtung. Hellgrün steht für ausreichende Beleuchtung, schwarz für unbeleuchtet, den „Angstraum“. Die Karte ist fast komplett dunkelgrau, nur die Häuserreihen sind hell, mittendrin schwarze Punkte. Der Kiez ist damit für die älteren ein dunkler Raum, „welcher ein generelles Gefühl von Unsicherheit hervorruft“. Das Gefühl ist berechtigt, nach Einbruch der Dunkelheit stolpert man selbst ein paar Mal über brüchige Steinplatten und aufgeplatzte Teerwege, das Herbstlaub tut das Übrige. Das ist keine Lappalie: Wird es dunkel, wagen die Älteren sich kaum noch raus.

 

Die Generationenkonflikte nehmen zu

Die TU-Studenten haben die Bewohner gefragt, was sie sich für ihren Mühlenkiez wünschen. Ordnung, Sauberkeit und sichere Wege, das waren die obersten Prioritäten bei den Älteren. Ein paar Treffpunkte, wo man unter sich ist, wünschten sich die Jugendlichen, Sprühwände, überdachte Plätze, einen ordentlichen Bolzplatz. Unter den Rentnern sei zudem der Wunsch nach einem Rosengarten und einem Fitnessplatz geäußert worden, erinnert sich Sozialarbeiterin Honeck. Jeder hat hier eigene Wünsche: Und oft steckt dahinter der Gedanke, sich bloß von der anderen Generation fernzuhalten.

Es seien Spannungen zwischen den Bewohnern im Rentenalter und den Jüngeren, meist Familien, zu beobachten, zitiert die Studie eine Kiezkoordinatorin der Gewobag. Die Ursache, es entbehrt angesichts der sonst offenbar werdenden Prenzlauer Berger Matrix nicht einer gewissen Ironie: Die Bewohnerstruktur, zu diesem Schluss kommt die Studie, sei seit Jahrzehnten äußerst beständig, und das sei der Grund für eine weitgehende Entfremdung unter den Bewohnern. Nur wenige Menschen, die hier vor der Wende wohnten, sind danach weggezogen – wieso auch, schließlich war eine Wohnung im Plattenbau für die meisten zu DDR-Zeiten ein Glückstreffer. Drastische Mietsteigerungen gab es im Mühlenkiez nie, also auch keinen Verdrängungseffekt. Familien mit Kindern sind die Minderheit: 62 Prozent der Bewohner sind älter als 45, jeder dritte jenseits der 65. Prognose: Die Älteren werden noch älter, Jüngere ziehen, wenn sich ihre soziale Situation verbessert, weg. Die Generationenkonflikte werden zunehmen.

 

Wie eine Insel – das kann auch ein Vorteil sein

Zehn, zwanzig Jahre wird es wohl noch dauern, bis der große Schnitt beginnt. Die Älteren werden sterben, mehr Familien zuziehen. „Die Bevölkerungsstruktur wird sich heftig ändern“, fasst Josiane Meier das Offensichtliche zusammen. Meier koordinierte als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU zusammen mit einem Kollegen die Studie. Ihr Blick richtet sich in die Zukunft des Mühlenkiezes, und da gebe es durchaus Potenzial. Auch wenn zwischen Älteren und Jüngeren kaum Kontakt bestehe, so gebe es doch den Wunsch auf beiden Seiten, das zu ändern, ist sie nach den Befragungen von Anwohnern überzeugt. „Die Älteren wollen zwar Ruhe haben, aber auch Anteil am Kiez nehmen. Und sie verstehen auch, dass die Jüngeren ebenfalls Rückzugsräume brauchen“, sagt sie. Die Jugendlichen wiederum würden durchaus, so ihr Eindruck, gerne mehr Zeit im Mühlenkiez verbringen, „wenn es denn attraktive Angebote gebe“. In Ermangelung dessen treibe es derzeit die meisten in die Innenstadt, vorzugsweise zum Alexanderplatz. In Prenzlauer Berg, so Meiers Eindruck, seien sie kaum unterwegs. „Das ist nicht das Umfeld, das sie suchen.“

Josiane Meier ist zuversichtlich, dass sich was tut im Kiez, auch dank ihres Projektes. Demnächst soll ein von Anwohnern organisierter Flohmarkt stattfinden, und auch die beiden für das Wohngebiet maßgeblichen Wohnungsbaugenossenschaften Gewobag und Zentrum e.G. hätten signalisiert, dass sie die Studie als Grundlage für weitere Maßnahmen dienen könnte. Durchaus vorstellbar, dass der Mühlenkiez irgendwann eine attraktive Wohngegend wird. „Der Kiez ist ja ein wenig wie eine Insel, isoliert vom Lärm der Stadt“, sagt Josiane Meier. Alles eine Frage der Perspektive.

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