25 Jahre nach dem Auszug aus der Lychener Straße 19 kehrt Katharina Vollus zurück in ihr Kinderzimmer – um im jetzigen Seminarraum Workshops zu leiten.
„Prenzlauer Berg hat sich so sehr verändert, dass ich gar nicht wegziehen musste, um mich wie in einer anderen Stadt zu fühlen“, sagt Katharina Vollus. Mit Ausnahme von zwei Episoden in Friedrichshain und Hamburg lebt sie schon ihr ganzes Leben lang in Prenzlauer Berg. Im Gegensatz zum altbekannten Klagelied vom Niedergang des Stadtteils hat diese Bemerkung bei der 36-jährigen Ur-Prenzlauerbergerin aber einen ganz anderen Grundtenor: „Ich bin sehr froh, hier einen Ort zu haben, an dem ich mich durch und durch zu Hause fühle“, sagt sie.
Im Jahr 1984 zog Vollus als damals 3-Jährige mit ihren Eltern aus einer Einzimmerwohnung in Friedrichshain in die Erdgeschosswohnung in der Lychener Straße 19. Einfach war es auch damals nicht, eine Wohnung zu bekommen. „Es war ein Glücksfall, wir haben mit einer Dame getauscht, die eine kleinere Wohnung gesucht hat. Anders kam man damals in Ostberlin kaum an eine Wohnung oder musste ewig warten“, sagt Vollus. Weil 1984 ihre jüngere Schwester unterwegs war, hatten die Eltern dafür keine Zeit.
Katharina Vollus in der Erdgesschosswohnung in der Lychener Straße im Jahr 1989 (Foto:privat)
Früher war mehr Abenteuer
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„Prenzlauer Berg war damals nicht sonderlich beliebt, die Leute sind viel lieber nach Marzahn in die Neubauten gezogen“, sagt Vollus. Sie erinnert sich im Viertel an graue Fassaden und „komplett leere Straßen, nur ab und zu fuhr mal ein Trabi vorbei“. Auch Läden und Kneipen habe es wenig gegeben, mal abgesehen vom kleinen Konsum direkt nebenan, dem August Fengler – einem bekannten Oppositionellen-Treffpunkt in der DDR – und dem Schusterjungen an der Ecke zur Danziger Straße. Aufgrund des Mangels, gerade auch an Unterhaltungsangeboten, sei die Nachbarschaft in der Lychener Straße besonders intensiv gewesen, erzählt Vollus. „Meine Eltern waren beide berufstätig, deswegen verbrachte ich viel Zeit mit meiner Schwester bei einem Nachbarsjungen und seiner Mutter im vierten Stock“. Zum Spielen ging man damals wie heute auf den Helmholtzplatz. „Nur, dass uns unsere Eltern dort auch stundenlang alleine spielen ließen“, sagt Vollus.
An den Mauerfall erinnert sich Katharina Vollus noch genau, sie war damals neun Jahre alt. „Wir haben im Radio gehört, dass die Mauer offen ist“, sagt sie. Der Vater, Solist am Staatstheater Schwerin, war gerade beruflich nicht in der Stadt. Also nahm Mutter Vollus am 10. Oktober 1989 ihre zwei Töchter an die Hand und spazierte mit Ihnen die Eberswalder Straße hinunter nach Wedding. „Ich erinnere mich vor allem an einen Gemüseladen. Der hatte eine Auslage wie im Paradies, da gab es die verschiedensten Früchte im Überfluss, und es war alles schön angeleuchtet“, sagt Vollus und muss lachen. „Der Wedding war bestimmt auch damals kein Luxuskiez, aber es ist doch bezeichnend, dass es mir so vorkam.“
Für die jugendliche Katharina war das Prenzlauer Berg der 90er Jahre eine Art großer Erlebnis-Parcours. „Hier war überall so viel Abenteuer. Wir haben viel Zeit auf den Dächern verbracht oder sind durch die Hinterhöfe gezogen.“ Die Kulturbrauerei, heute für Katharina Vollus nur noch ein touristischer Abklatsch seiner selbst, war damals ein veritabler Ausgeh-Ort mit linkem Publikum und Reggae-Partys. „Da waren Heerscharen von Leuten in Kapuzenpullis“, sagt sie.
Das Gefühl, dass alles anders wird
Schon als 15-Jährige hatte Vollus ein Gefühl dafür, dass in ihrem Viertel alles anders wird, das Abenteuer ziemlich rapide verloren geht. Der Vater habe ihr damals gesagt, dass nichts verschwinde, sondern nur woanders hinziehe. „Jetzt ist das Abenteuer halt vielleicht in Wedding oder in Kreuzberg“, sagt Vollus munter. „Dort kann man ja ab und zu hinfahren.“
Inzwischen wohnt Katharina Vollus in der Göhrener Straße und hat eine dreijährige Tochter, eine ebenso wie sie waschechte Prenzlauerbergerin. Auch die Eltern wohnen noch in Prenzlauer Berg, deren Wohnung in der Danziger Straße nennt Vollus den „Hafen der Familie“, wo sich alle regelmäßig treffen.
Ganz besonders freut sich Vollus darüber, dass sie gerade nach 25 Jahren in ihre Kindheitswohnung in der Lychener Straße 19 zurückgekehrt ist – und zwar um zu arbeiten. In der ehemaligen Erdgeschosswohnung befindet sich heute die Bürogemeinschaft L19. Vollus ist Ordnungsmentorin, das heißt sie berät Selbständige, aber auch Angestellte und Unternehmen dabei, wie sie strukturiert arbeiten und ihren Arbeitsplatz in Ordnung halten können. Gerade hat sie ihren ersten Workshop in ihrer Kindheitswohnung abgehalten. Künftig sollen die Kurse dort etwa einmal im Monat stattfinden.
Viele altbekannte Gesichter
„Die Räume sind nicht wiederzuerkennen“, sagt Vollus, während sie erklärt, wo hier früher die Wände entlanggingen, wo die Küche war und wo das Badezimmer. Im Hinterhof gibt es da schon mehr Überbleibsel. Die mit Steinen eingefassten Beete beispielsweise, das alte Fenster zum Hof, und auch die Pflanzen sehen ähnlich aus wie auf Katharina Vollus‘ altem Kinderfoto, auf dem Sie als Professor aus dem Buch „Emil und die Detektive“ verkleidet ist. „Natürlich ist jetzt alles hier viel schöner als damals“, sagt Vollus.
Veränderung ist ein fließender, ständiger Prozess, findet Vollus. Man könne eben leider nicht bestimmen, dass sie nur bis zu einem bestimmten Grad eintritt und danach alles für immer gleich bleibt. „Natürlich gehen mir manche Entwicklungen auch zu weit, gerade die unbezahlbaren Mieten, aber Vieles hat sich auch zum Positiven verändert“, sagt Vollus. „Ich möchte jedenfalls nicht zurück in die DDR.“ Prenzlauer Berg sei nicht nur schöner und sauberer, sondern auch farbenfroher und die Straßen viel lebendiger als früher, sagt Vollus. Und: „Ich muss sagen, ich sehe immer noch viele altbekannte Gesichter von früher. Ob aus der Kirchengemeinde, der Schule oder einfach nur vom Sehen, irgendwen erkenne ich immer. Wir sind alle nach wie vor hier Zuhause.“