Seit 100 Jahren ist im Haus in der Hufelandstraße 9 eine Bäckerei untergebracht. Ihre Geschichte hat Hans-Otto Bredendiek erforscht.
Hans-Otto Bredendiek lebt seit seiner Geburt in der Hufelandstraße. Der gelernte Eisenbieger befasst sich schon lange mit der Geschichte seiner Straße, zuletzt mit der Bäckerei im Erdgeschoss der Hausnummer 9. Die Ergebnisse seiner Recherche hat er für die Prenzlauer Berg Nachrichten in einem Gastbeitrag zusammengefasst – nicht der erste Text Bredendieks in dieser Zeitung übrigens. Schon im Januar beschäftigte er sich mit Zugezogenen und Dagebliebenen im Bötzowkiez.
GASTBEITRAG VON HANS-OTTO BREDENDIEK
Spaziert man die Hufelandstraße von der Greifswalder Straße zur Bötzowstraße hinauf, fallen einem sofort die vielen Kaffees und Bäckereien auf. Die Frühstückszeit geht hier von 6.30 bis 17 Uhr. Es wird geplaudert, die Welt verbessert, die Kinder erzogen, aber kaum einer der hier Sitzenden interessiert sich für die Geschichte der Lokalitäten.
Immer schon wechselten die Betreiber der Geschäfte; aus einer Damenschneiderei wurde ein Delikatessengeschäft, aus einem SA-Sturmlokal eine Apotheke, und aus einer Schuhmacherei ein Baugeschäft. Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Um so erstaunlicher ist es, in der Hufelandstraße auf ein Geschäft zu treffen, welches zwar nicht immer in Familienbesitz war, aber doch seit Bau des Hauses bis heute dasselbe Handwerk beheimatet – als einziges der ganzen Straße.
Die Rede ist von der Bäckerei Kempe in der Hufelandstr. 9. Der Erstbezug des Hauses dürfte um 1909/10 erfolgt sein, denn 1910 finden sich die ersten Einträge von Mietern im Berliner Adressbuch. 1911 erscheint erstmals eine Bäckerei – also vor genau 100 Jahren. Besitzer war der Bäckermeister A. Czok, der die Bäckerei bis 1915 betrieb. Nach einem kurzen Zwischenspiel von Bäckermeister F. Arlt übernahm um 1920 Bäckermeister M. Grundmann die Räumlichkeiten. Er konnte seine Bäckerei über den Krieg hinaus und in die DDR hinein erhalten. Sein direkter Nachfolger war Aribert Kempe, der Stammvater der Kempe-Dynastie, die noch heute an gleicher Stelle ihre Schrippen verkauft. 1957 übernahm er von Frau Grundmann die Bäckerei.
Bäckereien mit weniger als zehn Angestellten wurden nicht enteignet
Unter sozialistischen Bedingungen war es nicht leicht, als Selbstständiger zu existieren. „Die Versorgung der Bevölkerung stand an erster Stelle“, sagt Helga Kempe, die die Bäckerei 1980 von ihrem Schwiegervater als Geschäftsführerin übernahm. Bäckereien und Fleischereien wurden nicht enteignet, wenn die Angestelltenanzahl unter zehn Personen lag. Es gab daher immer fünf Gesellen und fünf Verkäuferinnen, die elfte war Frau Kempe – als mithelfendes Familienmitglied. Die Mitarbeiter mußten aber mit Samthandschuhen angefasst werden, damit sie am nächsten Tag auch wiederkamen.
80 Tonnen Weißware im Jahr waren das Ziel; wurde dies geschafft, dann gab es auch die Jahresendprämie. Schon früh am Morgen holten Krankenhäuser, Post, Sportvereine, aber auch das Ministerium des Inneren, Abteilung Ausreiseangelegenheiten, für ihre Kantinen die Schrippen ab. „Zu DDR-Zeiten war die Bäckerei ein Super-Laden mit Super-Umsätzen, ein Verkauf von Backwaren an die Bevölkerung wäre eigentlich nicht nötig gewesen“, sagt Helga Kempe.
Die Maschinen und der Backofen stammten zur Zeit der Übernahme durch Aribert Kempe alle noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Investitionen waren allerdings nicht möglich, da es keine Öfen und Maschinen zu kaufen gab. Da Bäckereien keine Industriebetriebe waren, gab es auch keine staatlichen Förderungen. Anders sah es auf der Kreisebene aus, die mit den Versorgungsproblemen vor Ort vertraut war. 1969 erfolgte ein Umbau, der von der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) gefördert und finanziert wurde.
Viele Handwerker aus der Nachbarschaft wie die „PGH Klempner“ halfen mit, wenn etwas zu reparieren war. Die Gewerbetreibenden der Umgebung unterstützten einander. Erfindungsreichtum war gefragt, um die Mangelwirtschaft der DDR zu überwinden. Grüne Tomaten wurden zu Citronat und Mohrüben zu Orangat verarbeitet, aus Erbsenmehl mit Grieß wurde ein Marzipanersatz gefertigt. Erdbeeren und selbst Rhabarber gab es für Bäckereien nur auf Zuteilung.
Nach der Wende war Gründergeist gefragt
1990 stand die Bäckerei vor einer völlig neuen Situation: schließen oder investieren? Nachdem sie sich für Letzteres entschieden und neue Maschinen und einen neuen Backofen gekauft sowie die Räumlichkeiten umgebaut hatten, standen Kempes plötzlich mit 100.000 DM Schulden da. Die Kantinen als Abnehmer brachen weg, es gab sie nicht mehr. Nun war Gründergeist gefragt. Kempes kauften sich einen Verkaufswagen, um auf Märkten präsent sein zu können. 1994 wurde ein Zweitladen in der Winsstrasse eröffnet.
Die Investitionen haben sich gelohnt, heute ist Kempe wieder so etabliert wie vor der Wende. „Ostschrippen kann es aber nicht mehr geben“, sagt Helga Kempe. „Das 612er Weizenmehl wurde mit Schale ausgemahlen. Dieses Mehl gibt es aber nicht mehr, alles andere wird heute mit Roggenmehl gestreckt.“
Seit 1997 wird die Bäckerei von Beate Kempe, einer Enkeltochter von Aribert Kempe, und ihrem Schwager Andre Lehmann geführt. Möge die Bäckerei Kempe auch den heutigen Zeitgeist überleben, der im Zeichen der großen Ketten steht, und auch in weiteren 100 Jahren hier zu finden sein.
Autor: Hans-Otto Bredendiek, Jahrgang 1964, ist gelernter Baufacharbeiter, nach abgelegter Reifeprüfung bis 1989 Studium der Theologie. Berufliche Stationen als Polier, Kalkulator und Bauleiter. Seit 2003 Medizinischer Fachangestellter. Interessensgebiete sind Regionalgeschichte Bötzow-Viertel, Uckermärkische Regional-, Siedlungs-, Kultur- und Kirchengeschichte sowie Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Hans-Otto Bredendiek lebt seit seiner Geburt im Bötzow-Viertel. Er ist verheiratet und hat 3 Kinder.