Peter Dausend schreibt über sein Lebensgefühl in Prenzlauer Berg und wie es ist, wenn man aus der Zeitschrift Geo erfährt, was einem dabei alles fehlt.
Ach, was haben wir doch verpasst, wir grundsanierten Bionademenschen! Wir haben das Früher verpasst, das Damals, die Zeit also, als es in der Hufelandstraße noch die Gardinenspinnerei gab und den Laufmaschenladen. Als die alten Linden unseren Kiez noch tief in in seiner Geschichte verwurzelten, als unser Ostberliner Gründerzeitviertel so gänzlich unberührt blieb von allen sozialistischen Plänen der neuen Stadt. Und von allen Schwaben. Als der Krieg – wie authentisch! - noch in den Einschusslöchern der grauen Häuserwände sichtbar war. Als Friede Pilzecker – wie menschlich! – noch persönlich beim SED-Bürgermeister um eine Erhöhung der Ölsardinen-Zuteilungen nachfragen konnte. Als hier – wie skurril! – noch schwule Kellner, gelernte Eisenbieger und ein Klavierstimmer lebten, der mit seinem Mercedes-Diesel aus den 30er Jahren immer nur im Kreis fuhr. Kurzum: Als der BötzowKiez noch nicht so wessihaft aufgehübscht vor sich hinprotzte, sich noch nicht so neubürgerlich-grün herausgeputzt hatte, noch nicht so nach der durchgestylten Outdoor-Variante von Schöner Wohnen aussah. Dafür hatte er aber im Überfluss das zu bieten, was ihm nun so schmerzlich fehlt: Substanz.
Und heute? Und heute ist alles ausgetauscht: Fassaden, Geschäfte, Menschen. Überall nur Umstandskleidung und Kindermode. Nur Spielzeugläden mit Laufrädern aus Holz, Cafés mit zahlosen Müslivariationen, Hochleistungs-Kitas für Wunderkinder. Und überall nur Kreativwirtschaftler mit ihren Laptops, den Ray-Ban-Sonnenbrillen und den Adidas-Retro-Turnschuhen, die beim Latte macchiato irgendwelche Projekte besprechen, für die sie von wem auch immer so unverschämt viel Geld bekommen, dass sie sich das alles leisten können: das dritte Holzlaufrad, den vierten Latte, die kernsanierte Eigentumswohnung, das Leben im In-Kiez, die Verdrängung der anderen. Und Linden gibt es auch kaum noch, sind längst Platanen gewichen. Die wachsen einfach schneller. Was passt auch besser zu einem Viertel ohne Substanz als ein Baum ohne Geschichte?
So oder so ähnlich lautet das Klischee über das Leben im Bötzow-Viertel. Nachzulesen ist es in der Titelgeschichte der Oktober-Ausgabe von Geo. Darin wird die postsozialistische Verwandlung der Hufelandstraße beschrieben, ihr Werdegang vom heruntergekommenen Straßenzug mit Gehalt zum aufgedonnerten ohne. Und nachzuhören ist das Klischee in der jüngsten Parteitagsrede von Sigmar Gabriel. Für den SPD-Chef braucht der Bewohner des Prenzlauer Berges im Allgemeinen nur drei Dinge, um eins zu sein mit sich und der Welt: Latte macchiato, Bionade und einen Stimmzettel, auf dem er die Grünen ankreuzen kann.
Es wäre also kein Wunder, wenn wir Bötzow-Kiez-Bewohner angesichts all dieser Negativ-Beschreibungen nun von Selbstzweifeln befallen würden. Wenn wir uns schlechten Gewissens fortan als geistige Invasions-Schwaben mit Hang zum Drittkind fühlen. Als Klavierstimmer- und Eisenbiegerverdränger, die ihr substanzloses Dasein mit überteuerten Lifestyle-Getränken und edlen Bioprodukten garnieren, die reich und borniert genug sind, um sich Renate Künast zu leisten und deren Selbstverständnis als weltoffene, tolerante Globaldorfbewohner nur dadurch je auf die Probe gestellt wird, dass sie Leute ertragen müssen, die genauso viele Veganer-Kochbücher besitzen wie sie selbst. Ach, wie ist es doch so so gnadenlos eintönig, so uniform grün in grün, unser Leben in Klon-City.
Wer nun Anzeichen dieser Selbstzweifel verspürt, der kann sie auf zweierlei Art bekämpfen. Bei der ersten sollte der Selbstzweifler gezielt Laptop und Ray-Ban-Brille in seiner Eigentumswohnung mit Dachterrasse vergessen und dann das einzige Haus ansteuern, das in seiner Straße noch nicht saniert ist. Nicht nur die Bötzowstraße, jede Bötzow-Straße hat ein solches Haus. Sieht so manch abgebröckelter Putz nicht aus wie ein Original Einschussloch aus WWII? Und ist es – mit ein wenig Phantasie - nicht auch möglich, im erstbesten Passanten den gelernten Eisenbieger zu erkennen? Man muss ihm ja nicht gleich auf die Adidas-Retro-Füße schauen. Schwule Kellner findet man eh überall, warum also auch nicht in einem der Cafés entlang der Hufeland? Dort angekommen übersieht der Selbstzweifler geflissentlich Angebote wie „Handgeschrotetes Müsli“, „Fußbemalte Vollwert-Croissants“ sowie den „Dialog von Yoghurt und Feige“ – Menschen, die den Bötzow-Kiez nicht kennen, wissen genau, dass es sowas dort gibt - und bestellt beherzt drei Ölsardinen mit Sättigungsbeilage. Und wenn er sich dann noch die gegenüberliegende Saftbar als Getränkestützpunkt imaginiert, den Unterschied zwischen Linde und Plantane ohnehin nicht kennt, im Buchladen um die Ecke sich nach Literatur über Laufmaschen und Gardinenspinnen erkundigt, spürt er, wie alle Selbstzweifel verfliegen und langsam, das in ihm aufsteigt, was einst mit dem SED-Bürgermeister unterging: die Substanz.
Für Leute, denen das zu aufwendig erscheint, gibt es die zweite Methode. Rausgehen, sich umschauen – und einfach zuhause fühlen.