Haben Sie manchmal das ungute Gefühl, mit Ihrem Computer organisch verwachsen zu sein? Oder einfach bald durchzudrehen? Die Revue „Mit 200 Sachen ins Meer“ hilft. Eine Lobeshymne
Und jetzt werden Sie zwar sagen, „Theater, hör mir bloß auf damit, mit dem Blutschweißschwänze-Gefuchtel bin ich durch, sehe ich so aus, als ob ich Zeit für diese unwichtigen Eskapaden subventionierter Kultur-Krämpfe habe“, nein, haben Sie nicht, denn Sie müssen ja den nächsten Auftrag an Land ziehen und dürfen nicht scheitern und werden am Ende eben doch noch durchdrehen. Ha!
Aber das ist natürlich nur eine Vermutung. Tatsache ist: In der Kulturbrauerei ist derzeit eine Revue zu sehen: „Mit 200 Sachen ins Meer“. Ein Titel wie ein aufgerissenes Fenster und von einer gewissen Rio-Reiserhaftigkeit. Freunde des radikalen Eskapismus und des Ostsee-Wochenendausflugs, aufgepasst: Es geht um so etwas wie mögliche Wege zurück in die sogenannte Lebendigkeit. Ein zwanzigköpfiges Ensemble um Kay Langstengel, der das Stück und (zusammen mit Enya Hutter) auch gleich noch die Musik dazu geschrieben hat, spielt sich im Theater RambaZamba durch einige schöne, böse Schichten schwarzen Humors, um letztlich zu der einen, der großen Frage zu gelangen, die uns alle umtreibt:
„Was soll die ganze Scheiße eigentlich?“
Genau. Wir befinden uns in einer Psychiatrie, ganz leicht und sinnvoll wird einem aber schon bei Newtons (Sven Normann) ersten Sätzen ums Herz, die umso heftiger sitzen, als Normann selbst sitzend (und Witze übers Sitzenbleiben konternd) sie aus einem Rollstuhl heraus pfeilgenau ins Bühnendunkel schleudert. Ein neuer Patient schlurft herein (Björn Wunsch), auch er nur einer von vielen, die nach eigener Einschätzung „eigentlich nicht hierher gehören“. Hier: das ist der Ort, an dem verschiedene destruktive Zustände verwaltet, klassifiziert und eingedämmt werden – mit mal mehr, mal weniger gutem Durchblick, wie die rollbaren Fensterrahmen samt Jalousien als einzige Bühnendekoration lakonisch andeuten.
Zugegeben, angefangen bei Günter Grass’ erstem „Blechtrommel“-Satz („Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“) bis zum öffentlich-rechtlichen Empörungs-Fernsehen („Neues aus der Anstalt“) mag das Motiv der volkstümlich „Irrenanstalt“ genannten Bleibe ein wenig durch sein. Aber die Zeiten haben sich geändert: Spätestens seit Andreas Dresens Prenzlauer-Berg-Märchen „Sommer vorm Balkon“ ist auch den weniger Auffälligen unter uns klar, dass kreativtherapeutisches Körbeflechten einen früher ereilen kann, als man denkt. „Immer schön kreativ geblieben – das wird schon!“ singt denn auch Normann in einer grandiosen, an Georg Kreisler und Bert Brecht erinnernden Nummer über den lachhaft seiner selbst entfremdeten Menschen.
Psychose? Früher wäre man dafür heilig gesprochen worden
Was auch immer die Leute hier zu Insassen gemacht hat, beruht auf Missverständnissen, komischen Unfällen und liebesbedingten Fehlern bei der Lebensführung: Früher hätte man sie heilig gesprochen, klagt da etwa Goldie (Gabriele Helmdach), die nach einer unglücklichen Liebe angefangen hatte, ihr vieles Geld an andere Menschen zu verschenken. Oder Newton, der nach Jahren exzessiver Bildschirm-Existenz fand, dass sich seine Computermaus-Hand zur Kralle verformt, die andere zum Kaffeetassenheber reduziert hatte. Computer und Schreibtisch warf er zum Fenster hinaus, um sich das Leben zurückzuholen, was ihm aber leider als Selbstmordversuch (wegen der Schnittwunden) ausgelegt wurde.
Biografische Fragmente strukturieren die gut zweistündige, famos kurzweilige Aufführung, die Gesangs- und Musikeinlagen steigern sich dabei zu großen Eruptionen oder implodieren in stillen, ergreifend schönen Momenten: immer stimmig aus der Situation heraus. Die Stile reichen vom Berliner Chanson (allein Ulrike Lührs „Ick steh uff mir“!) bis zu schwärzestem Metal-Dröhnen; vom Trip-Hop-Stück „I Like Your Body“ (federleicht gesungen von Heiko Fechner) bis zur zarten Klavierbegleitung einer inniglichen Choreografie: Ein Tänzer hebt seine Partnerin vorsichtig aus ihrem Rollstuhl und schwingt sich sachte mit ihr ein (Kolja Seifert und Sophie Schöffler). „Wahnsinn“, flüstert jemand im Publikum. Sekunden vorher wurde noch laut gelacht, jetzt könnte man eine Federboa fallen hören.
Immer diese Worte: Wahnsinn, Behinderung, Integration
Ach ja: Das Theater RambaZamba, 1990 von Gisela Höhne und Klaus Erforth gegründet, ist ein inzwischen international bekanntes „integratives Theaterprojekt“. Das heißt, Menschen mit sogenannter Behinderung spielen hier genauso professionell Theater (inklusive Proben und Training von Montag bis Freitag, je sechs Stunden) wie ihre nichtbehinderten Kollegen.
Was die Arbeitsweise angeht, könnte so mancher Firmenchef hier noch einiges lernen. In Improvisationseinheiten, erzählt der Regisseur Kay Langstengel, lerne er Denken, Sprache und Bewegungsabläufe der Mitspieler kennen. So habe er – Langstengel ist Lyriker und Musiker, schreibt Hörspiele und Libretti (etwa für die Wiener Kammeroper) und arbeitet seit 1995 am Theater RambaZamba – den Schauspielern die Rollen auf den Leib schreiben können.
Deshalb meint Sven Normann, der den Newton spielt: „Man hat mich überreden können zu singen, obwohl meine Stimme schrecklich ist“. Was natürlich nicht stimmt. Den Leuten „Lust zu machen auf das, worin sie gut sind“ - so beschreibt es die Dramaturgin Bettina Bartz, die auch bei großen Opernproduktionen mitwirkt und an der Arbeit für RambaZamba schätzt, dass „man die Theatergesetze viel strenger erlebt: die Figuren müssen auch dann noch stimmen, wenn ein Schauspieler mal seinen Text vergisst.“
Wer ist hier der Außenseiter?
Davor hat man aber keine Angst als Zuschauer, die Luft flirrt geradezu vor Konzentration. Bei einem Probenbesuch wird deutlich, wie diszipliniert Langstengels Truppe arbeitet – um innerhalb der gefundenen und immer wieder weiterentwickelten Form zugleich aus dem Vollen zu schöpfen.
Beim Begriff „integratives Theater“ interveniert Langstengel mit fast irrenärztlicher Freundlichkeit: „Für mich ist das, was wir hier machen, nicht integrativ, sondern inklusiv“, sagt er. Integrativ bedeute für ihn, „dass ich über den anderen stehe und so nett bin, sie zu integrieren. Wir müssen uns aber die Arbeit teilen, und zwar auf Augenhöhe, wir bestehen ja nur gemeinsam.“ Er habe da ganz schön in seinem eigenen Kopf aufräumen müssen. „Wenn ich meine Leistung zurücknehme, um die anderen besser aussehen zu lassen, sehen sie nicht besser aus. Wenn ich aber mit allem, was ich kann, dabei bin, sehen wir alle besser aus. Und außerdem: Eigentlich bin ja ich der Außenseiter.“
Man ist ja nicht aus der Welt
Das sind dann so neue Perspektiven, die RambaZamba eröffnet. Sven Normann sagt: „Man hat da als Mitspieler eine so schöne Form, sich auszudrücken, und kann der Welt außerdem zeigen, dass ,behindert sein‘ nicht heißt, dass man irgendwie weg ist. Es ist schön, dass Leute sagen können, aha, da spielt jemand in einem zweistündigen Stück mit!“
Und so werden hier einfach die Zuschauer inkludiert, die sich in vielem, was die „Behinderten“ ihnen da vorspielen, wiedererkennen. Und wenn’s der kniffelige Umgang mit weiblichem Verlangen ist: „Schon mal versucht, einen Vulkan mit einem Eimer Wasser zu löschen?“ fragt der Verliebte (Heiko Fechner), der endlich die „schwarze Witwe“ (Dorothee Blum) erobert hat. „Kommt uff’n Eemer an“, meint meine Sitznachbarin.
„Mit 200 Sachen ins Meer“: Heute (Donnerstag, 21. Juni) um 12 Uhr, morgen um 18 Uhr im Theater RambaZamba in der Kulturbrauerei, Schönhauser Allee 36-39, Gebäude 7.1 (weitere Termine siehe Homepage). Karten für 11 bzw. 8 Euro unter service@theater-rambazamba.org oder unter Telefon 030/ 43735744 (nur Anrufbeantworter) oder Montag bis Donnerstag 10 – 16 Uhr unter 030/ 440 490 44.
NEWSLETTER: Damit unsere Leserinnen und Leser auf dem Laufenden bleiben, gibt es unseren wöchentlichen Newsletter. Folgen Sie uns und melden Sie sich hier an!