Einst lebte in der Fehrbelliner Straße die Schneiderfamilie Fuss. Im Dritten Reich wurde die jüdische Familie auseinandergerissen, Töchter und Vater ermordet. An ihr Schicksal erinnern nun Stolpersteine.
GASTBEITRAG VON MARIA BENNING
Drei glänzend-polierte Messingsteine zieren den Bürgersteig vor der Fehrbelliner Straße 81. Auf jedem dieser Steine ist ein Name eingraviert: Ruth, Thea und Abraham Fuss. Drei Menschen, die hier gewohnt haben, bevor sie während der Nazi-Zeit brutal verschleppt und ermordet wurden. Nur Hildegard Fuss, Abrahams Frau und Mutter der beiden Kinder, konnte nach Schweden fliehen und überlebte.
Serafina Bischoff, Pia Nicolai, Stefan Schäfer und Frederick Qasem besuchen die 9. Klasse des John-Lennon-Gymnasiums. Zusammen mit dem Nachbarschaftshaus am Teutoburger Platz haben sie die Geschichte der Familie Fuss genauer erforscht. Gemeinsam mit Verwandten der Familie Fuss aus Schweden und Freunden aus Israel fand Ende April die Verlegung der Stoplersteine für ihre Angehörigen statt.
Vater Fuss wurde in Sachsenhausen erschossen
„Auf Befehl erschossen“ steht in der Akte von Abraham Fuss, welche die Schüler im Archiv fanden. Sterbezeit: 19 Uhr. Vor sechzig Jahren, am 28. Mai 1942, wurde Abraham Fuss in Sachsenhausen ermordet. Das Haus in der Fehrbelliner Str. 81 war sein letzter frei gewählter Wohnsitz. Hier lebte der 1891 in Polen geborene Mann gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern. Hier befand sich auch die Schneiderei Fuss, in der Abraham vier Angestellte und mehrere Gehilfen beschäftigte.
Thea und Ruth Fuss, geboren 1930 und 1931, besuchten die Kinderstube der Jüdischen Gemeinde in der Fehrbelliner Str. 92, ein paar Häuser weiter. Aus diesem Hort wurde nach und nach ein Waisenhaus. Immer mehr Eltern konnten ihre Kinder nicht mehr abholen nach der Hortzeit, weil sie deportiert wurden oder weil sie arbeiteten und die Kinder zu Hause nicht versorgen konnten.
So erging es auch Hildegard Fuss. Auch sie musste ihre beiden Töchter dem Waisenhaus überlassen, nachdem ihr Mann 1939 inhaftiert und verschleppt worden war. Zu der Zeit erwartete sie ihr drittes Kind. Sie wollte es nicht in Deutschland zur Welt bringen und versuchte mit falschen Papieren über die schwedische Grenze zu fliehen. Der Schwindel wurde aufgedeckt und Frau Fuss zurück nach Deutschland geschickt. Dieser Beschluss konnte allerdings nicht ausgeführt werden aufgrund des Krieges. Mehr als zwei Jahre versuchte Hildegard Fuss vergeblich, Thea und Ruth nach Schweden zu holen. Unüberwindlich waren die rund 900 Kilometer Distanz zwischen Berlin und Stockholm. Absurd, dass die Kinder dann für ihre Hinrichtung in Riga eine noch größere Distanz überwanden.
Im Nachbarschaftshaus erinnert eine Ausstellung an die Vergangenheit
Heute dient das einstige Waisenheim für jüdische Kinder als Nachbarschaftshaus am Teutoburger Platz. Eine Ausstellung im oberen Stockwerk des Hauses erinnert an die Atmosphäre, die hier in den späten 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts herrschte. Hell und freundlich wirkte das Haus schon damals. Auf den Fotos sind Kinder zu sehen, die Theater spielen, lachen und musizieren. Ein berühmter Theaterfotograf – Abraham Pisarek – hat die Bilder gemacht. Weil er aufgrund seiner Herkunft nicht mehr in den namhaften Theatern der Stadt arbeiten durfte, hatte er Zeit für Kinderfotos.
Das Heim in der Fehrbelliner Straße war nach reformpädagogischen Grundsätzen organisiert. Licht und Luft sollte es geben. So verfügte das Haus schon damals über eine großzügige Dachterrasse. „Hoch oben auf dem Dach konnten die Kinder jüdischer Herkunft spielen, ohne sich dabei von deutschen Kindern hänseln lassen zu müssen“, erklärt Inge Franken, die ein Buch über das ehemalige jüdische Kinderheim geschrieben hat. Zweieinhalb Jahre lebten Thea und Ruth hier, bis sie deportiert und schließlich – ebenso wie ihr Vater – ermordet wurden.
Die schwedische Familie begab sich auf die Suche nach ihren Wurzeln
Das dritte Kind der Familie Fuss, Eva, wurde in Schweden geboren. Sie lebt heute in Växjö, einer Stadt in Südschweden. Hildegard Fuss, ihre Mutter, übergab ihr Baby gleich nach der Geburt einer schwedischen Pflegefamilie. Sie hat in Schweden nie einen Job gefunden und auch nicht wieder geheiratet. Ihre Enkelin Helena Johannsen erzählt, dass Hildegard eine schwache Gesundheit hatte und unter Rheuma litt. „Ich denke, obwohl man es damals nicht so nannte, dass sie eine Depression hatte“, so Helena Johansson.
Bislang wusste niemand im schwedischen Teil der Familie, woher genau die Familie stammte. Erst als Helena und Hakan Johannsen, die Enkel von Eva, sich auf die Suche nach ihren Wurzeln machten, ergab sich ein genaueres Bild. Die Johannsens fragten beim schwedischen Staatsarchiv in Stockholm nach und fanden dort eine Eidesstattliche Erklärung ihrer Großmutter. In diesem Schreiben legte sie ihre Herkunft dar, erklärte, dass sie aus Berlin stammte, und dass sie dort noch zwei weitere Kinder habe zurücklassen müssen. Mit diesen Informationen stieß Johanssen auf die englischsprachige Webseite von Inge Franken. Auf diese Weise kam das Projekt in Gang. Bereitwillig spendeten die heutigen Bewohner des Hauses für das Stolpersteinprojekt. Einmal im Jahr, so erklären sie, werden sie Putzlappen und Politur zur Hand nehmen und die drei Messingsteine vor ihrem Hause frisch auf Hochglanz bringen – jährlich zum 8. Mai.
Foto: Gerald Zörner, fotostudio gezett.
Autorin: Maria Benning, vollständig Maria Bernarde Benning, 1965 als drittes von fünf Kindern geboren, aufgewachsen im Münsterland auf dem Bauernhof der Eltern. Au Pair in Irland. Studium Germanistik, Geschichte, Pädagogik in Münster und Köln. Staatsexamen. Referendariat. Zweites Staatsexamen. Auslandsdienstlehrkraft in Kosice, Slowakei. Journalistenschule. Redakteurin beim Computermagazin c’t, Entwicklungsredakteurin im Heise Zeitschriftenverlag Hannover. Heute lebt und arbeitet sie als Lehrerin und Journalistin in Berlin und unterrichtet Deutsch, Geschichte und Ethik/Philosophie am John-Lennon-Gymnasium. Gemeinsam mit dem Fotografen Gerald Zörner hat sie 2011 das Buch „Fotoshooting. Das Subjekt vor dem Objektiv“ geschrieben.