Kinder tun auch deshalb so gut, weil man von ihnen lernt, wieder logisch zu denken. Man verlernt das nämlich je älter man wird. Kinder stellen einfache Fragen, geradeheraus.
Ich denke dann oft: Puh, was soll ich jetzt sagen, das ist gar nicht so einfach, man kann das aus dieser und aus jener Perspektive sehen, man sollte dieses und jenes bedenken, wie soll ich das jetzt so beantworten, dass mein Kind die Komplexität des Sachverhaltes in einem Satz kapiert und ich ihm trotzdem nicht unrecht tue, also dem Sachverhalt und seiner Komplexität?
Es ist schwierig.
Aber allmählich lerne ich es. Früher hab ich nur gestottert. Oft geschwiegen. Und ewig rumgelabert. Mein großer Sohn hat sich angewöhnt, mich rasch abzuwürgen. Er sagt nach dem dritten Satz: „Ja!“ Das heißt: Ich hab’s geschnallt, Alte, quatsch nicht ewig um den heißen Brei rum. Allmählich schaffe ich es, auf einfache Fragen angemessen einfache Antworten zu geben. Und die Welt klarer zu sehen. Das führt zu einem eigenartigen Phänomen: Es kommen Gefühle hoch.
Mein großer Sohn war heute auf seiner fünften Demo. Bei der ersten ging es um die Frage, warum man ein Land bekriegt, wenn man ihm Frieden bringen will. Bei der zweiten um die Frage, warum die Kinder nicht Vorrang vor den Autos haben. Bei der dritten, warum auf diese Frage immer noch keiner geantwortet hat. Bei der vierten, warum die Menschen sich selbst verseuchen. Und heute ging es um die Frage: Warum gebt ihr uns nicht mehr Raum – und lasst ihn lieber leer stehen?
Mein Sohn ist jeden Tag acht Stunden in der Schule. In ein und demselben Raum. Er fungiert als Klassenzimmer und als Hortraum: 24 Kinder auf 54 Quadratmeter, von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Ich habe ihn mal begleitet, nach drei Stunden hatte ich Kopfweh. Es ist eng und stickig und laut.
Mein Kind sagt: Wir haben doch leere Räume in der Schule, wieso dürfen wir da nicht rein? Und: Der Direktor hat doch den Schlüssel, warum schließt er nicht auf? Und: Die Erwachsenen dürfen da auch rein, wieso nicht wir Kinder? Und: Warum gibt die Oberchefin 2.548,86 Euro im Monat für leere Räume aus, in die wir nicht rein dürfen, weil die Nutzung durch uns „wirtschaftlich unrentabel“ wäre?
Ja.
Auf all diese Fragen kann man Antworten finden. Wir tun es auch. Die Lehrerinnen, die Erzieherinnen, der Direktor, die Bezirksschulrätin. Wir Erwachsenen. Aber wenn ich ganz logisch und einfach denke, kommen Gefühle hoch. Erst Wut, dann Scham.
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