Der Kollwitzkiez ist das Paradebeispiel für Gentrifizierung. Heute lebt er etwas eintönig von Restaurants und Cafés, aber seine Vergangenheit ist bewegend.
Mit welchen Gedanken, überlege ich, würden Käthe Kollwitz und ihr Mann Karl wohl auf das samstägliche Markttreiben am Kollwitzplatz schauen? Sie hätten von ihrer Wohnung aus einen direkten Blick auf den Markt gehabt. Kaum vorstellbar, dass beide sich für das Aperol Spritz trinkende Bürgertum, das angelehnt am Spielplatz-Zaun steht, interessiert hätten. Langweiliger und öder geht es ja auch kaum.
Vermutlich würde Käthe Kollwitz die Menschen beobachten, die hier verkaufen, nicht jene, die hier kaufen und konsumieren. Ihr Mann hätte wahrscheinlich nur wenige Patient*innen gehabt, weil dort kaum jemand arm und mittellos ist, sondern selbst als Ärztin oder Rechtsanwalt arbeitet. Oder nur Arzttochter oder Rechtsanwaltssohn von Beruf, das reicht ja manchmal schon. Man würde Käthe und Karl Kollwitz nicht verübeln, wenn sie hier schon längst nicht mehr wohnen wollen würden. Sie, die sich in ihren Werken mit Armut, Ausbeutung und Obdachlosigkeit beschäftigte, und er, der Berliner Armenarzt.
Dies ist ein Text aus unserer Reihe
„Kiezgeschichten“
Käthe Kollwitz zog 1891 mit ihrem Mann in den Berliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg in das Wohnhaus an der Weißenburger Straße am Wörther Platz, heute Kollwitzstraße 56a am Kollwitzplatz. Mehr als 50 Jahre lang blieb diese Wohnung der Lebensmittelpunkt der Familie, vorerst auch als Arbeitsort für sie. Durch ihren Mann, dessen Praxis anfangs auch dort untergebracht war, erhielt die Künstlerin direkten Einblick in die Lebensrealität der Arbeiterfamilien und war vom Schicksal der Menschen tief bewegt. In teilweise dramatischen Zeichnungen befasste sich Käthe Kollwitz mit den existenziellen Nöten der Menschen wie Arbeitslosigkeit, Prostitution, Krankheit, Hunger und hohe Kindersterblichkeit.
Ein Viertel für Wohlhabende
Aus dem Arbeiterbezirk ist 100 Jahre später ein Viertel für Wohlhabende geworden. Der Kollwitzkiez gilt als das gentrifizierte Paradebeispiel. Einhundert Millionen Euro wurden nach dem Fall der Mauer in die historischen Gebäude investiert. Was dann passierte und warum es heute so ist, wie es ist, man muss es nicht mehr erwähnen. Davor, in den 1980er Jahren, wurde zwar noch mit Kohle geheizt und es gab Außentoiletten, aber die Ost-Berliner Bohème brachte wenigstens Aufmüpfigkeit und Kreativität und Anarchie in den Kiez. Vielleicht ist einiges Verklärung und damals wie heute ist nicht alles schlecht und nicht alles gut, aber man kommt einfach nicht umhin sich zu fragen: Wo bleibt der (rebellische) Geist, der Verstand, wenn der Mensch alles hat, satt und verwöhnt ist vom materiellen Reichtum?
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Der Kollwitzkiez ist natürlich mehr als das Herzstück Kollwitzplatz, er erstreckt sich von der Tor- bis zur Danziger Straße, von der Schönhauser Allee bis zur Prenzlauer Allee. Schnell wird klar: Die Vergangenheit ist vielschichtiger und bewegender als die Gegenwart. Was wäre der Kollwitzkiez ohne den Geist der Geschichte aus DDR, dem Nationalsozialismus und auch der Zeit davor?
Ein riesen Wirbel um nichts?
Die Kulturbrauerei beispielsweise ist jetzt ein Gebäudekomplex für Spaß und Unterhaltung, Kunst und Kultur. Früher ist er wirklich eine Brauerei gewesen. Nachdem 1842 der Chemiker und Apotheker Heinrich Prell den Grundstein legte, übernahm 1853 nach seinem Tod Jobst Schultheiss die Brauerei. 1967 wird der Betrieb eingestellt, drei Jahre später schon öffnet der Franzclub. Es ist wahrscheinlich der Beginn der heutigen Kulturbrauerei. Und man muss feststellen, dass die Nutzung sich der jeweiligen Zeit anpasst – früher Arbeitsplatz für viele Arbeiter*innen im Arbeiterbezirk, heute Publikumsmagnet für Zerstreuung und Zeitvertreib.
Ich gehe durch die Straßen und denke: So ein Wirbel um ein Viertel, in dem man letztlich nur teuer wohnt und in Restaurants oder Cafés sitzt und shoppen geht. Ist das also diese Lebensqualität, von der neben der Work-Life-Balance andauernd geredet wird? Selbstfürsorge wird wahrscheinlich auch groß geschrieben, ist letztlich natürlich nur versteckter Narzissmus. Vermutlich redet man gerne über Diversität, aber homogener geht es hier kaum noch. Alle sehen irgendwie gleich aus und sind gleich alt, vermutlich wählen und denken die meisten auch das Gleiche. Am Ende bestätigt man sich gegenseitig. Ach, wie eintönig, wie geisttötend, wie fade. Und doch entwickelt man für diesen Kiez eine Art Hass-Liebe, weil es irgendwie alles auch ganz schön ist. Für eine begrenzte Zeit, zu Besuch.
Bewegte Vergangenheit
Deshalb widme ich mich wieder der Vergangenheit, dem Jüdischen Friedhof, auf dem bis 1880 alle Jüdinnen und Juden Berlins beigesetzt wurden, und dem an der Außenseite des Friedhofs liegenden so genannten Judengang. Er erstreckt sich zwischen Senefelder- und Kollwitzplatz und ist etwa sieben Meter breit und 400 Meter lang. Öffentlich zugänglich ist er nicht und auch seine Entstehung ist nicht eindeutig geklärt. Die meisten Quellen sagen, dass der Judengang für König Friedrich Wilhelm III. angelegt wurde, damit er keinem Leichenzug auf dem Weg zum Schloss Schönhausen begegnen musste. Ein anderer Grund soll aus der Halacha entstammen, der religiösen Richtlinie des Judentums. In den Nuller Jahren wurde der Pfad als Denkmal neu hergerichtet und wird nun als halbprivate Grünfläche von den dort direkt lebenden Bewohner*innen genutzt.
Auch die Synagoge in der Rykestraße ist nicht weit entfernt, denn bis 1938 war der Prenzlauer Berg Mittelpunkt jüdischen Lebens. Als die Heeresstandortverwaltung die Synagoge konfiszierte, wurde sie ab Mai 1940 als Pferdestall und Depotlager missbraucht. Die dort ansässige III. Volksschule der Jüdischen Gemeinde wurde 1941 für die deutsche Feldpost beschlagnahmt. Zu DDR-Zeiten war sie die einzige Synagoge Ost- Berlins und wurde somit zum Zentrum der Jüdinnen und Juden in der DDR. Es ist nicht zu fassen, dass heutzutage immer noch Polizist*innen patrouillieren müssen.
In der Gegenwart schmunzeln
Nach Vergangenheitsschau und Gegenwartsrealität frage ich mich, wie die Zukunft aussieht. Wie wird dieses Viertel in 30, 50 oder 100 Jahren aussehen? Was für Menschen werden hier wohnen? In 30 Jahren sind die heutigen Bewohner*innen alt. Und vielleicht werden die Karten dann wieder neu gemischt, vielleicht wird alles ein bisschen gemäßigt sein. Bis dahin schmunzeln ich über die Gegenwart, indem ich mir die wunderbaren Cartoons von OL, Olaf Schwarzbach, ansehe und lese. Dort sitzen drei Frauen auf dem Spielplatz am Kollwitzplatz. Die eine sagt: „Ich wähl den Wolfram Thierse, weil der hier wohnt.“ Die andere erwidert: „Das ist doch ein Grüner …“ Die Dritte sagt: „Der ist doch bei der FDP und schwul.“ Es antwortet die Erste: „Ist mir ganz egal, Hauptsache kein Ossi …!“ Und die Künstlerin, übrigens auch zweifache Mutter, Käthe Kollwitz hat 1922 in ihr Tagebuch geschrieben: „Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.“
1 Kommentar
Ich liebe den Prenzlauerberg. Er ist nicht mehr Punk und Aufbruch wie zu Studentenzeiten, aber auch ich bin keine Studentin, sondern arbeite und habe Kinder. Viele Prenzlauerbergbewohner sind mit dem Bezirk erwachsen geworden. Nicht alle sind in Luxuswohnungen gezogen. Der Prenzlauerberg ist dörflich. Schwingt nicht immer Neid mit, weil es ein schöner Bezirk ist, wo Leute gerne in Cafés sitzen, auf dem Markt ihre Freunde und Bekannten treffen, Kultur genießen, ausgehen? Sehr schade finde ich natürlich, das der Hobbyshop oder andere Läden die Miete nicht mehr zahlen konnten und nun nicht mehr da sind. Da wünschte ich mir mehr Kiezverantwortung der Vermieter.