Radix

An der Wurzel

von Katharina Angus 12. August 2022

In den 1980er Jahren entstanden in Prenzlauer Berg die radix-Blätter: eine illegale Samisdat-Zeitschrift, die sich kritisch mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzte. Gründer Stephan Bickhardt erinnert sich.


„Ja, wie man zum Stein spricht, wie du mit meinen Händen dorthin und ins Nichts greifst, so ist, was hier ist: auch dieser Fruchtboden klafft, dieses Hinab ist die eine der wild-blühenden Kronen.“ Mit diesen Zeilen schließt Paul Celans Gedicht „Radix, Matrix“. Als der junge Theologiestudent Stephan Bickhardt es 1985 im Bücherregal seines Freundes Ludwig Mehlhorn in Prenzlauer Berg entdeckt, ist der Titel für die Samisdat-Zeitschriftenreihe, die beide mit einigen Vertrauten illegal herausbringen werden, gefunden. Radix ist lateinisch für Wurzel und repräsentiert für die Herausgeber der radix-Blätter die Absicht, den Dingen rigoros auf den Grund zu gehen.

„In den 1980er Jahren gab es ein untergründiges Gespür dafür, dass sich etwas veränderte und ich gehörte zu denen, die diesen Wandel mit vorantreiben wollten“, erzählt Bickhardt, der mittlerweile in Dresden lebt, am Telefon. „In der polnischen Opposition existierte die parallele Welt der Filme und Untergrund-Zeitungen, aber auch der so genannten ‚fliegenden Universitäten‘. Zu diesen hatte ich unmittelbar, bevor wir mit den radix-Blättern begannen, Kontakt. Im Jahr 1985 fuhr ich nach Prag, wo ich Leute aus dem Widerstand, wie Jiří Dienstbier, traf. Man hat mir viel über den tschechischen Samisdat erzählt und als ich nach einer Woche nach Hause gefahren bin, dachte ich: das machen wir jetzt auch.“

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Kunstraum Prenzlauer Berg

Bei der ersten Ausgabe 1986 soll es sich um eine künstlerische Mappe mit Beiträgen zu Paul Celans Werk handeln. Als von den Nationalsozialisten Verfolgter und Flüchtling vor dem Stalinismus in Rumänien, sprach er insbesondere einen doppelten Verantwortungssinn der radix-Herausgeber für Vergangenheit und Gegenwart an. Die Mitarbeiter*innen der radix-Blätter rekrutieren sich aus dem erweiterten Freundeskreis der Beiden. Bereits vor der Gründung der radix-Blätter veranstalteten Mehlhorn und Bickhardt in dessen Wohnung der Knaackstraße 34 Lesungen und Diskussionen. Später zieht Bickhardt in die Dimitroff-, heute Eberswalder Straße.

Der Prenzlauer Berg ist zu dieser Zeit ein vielfältiger Kulturraum für Oppositionelle der DDR. In der Gemeinde der Zionskirche in Mitte entsteht 1986 die Berliner Umweltbibliothek, durch den ganzen Bezirk ziehen sich sogenannte „offene Wohnungen“, in denen Kritiker*innen des Regimes Bekannte zum freien Austausch einladen, und auch die Samisdat-Szene hat in Prenzlauer Berg verschiedene Publikationen zu bieten.

Die Besonderheit der radix-Blätter besteht unter anderem in ihrem Erfolg, von der Stasi weitgehend unbehelligt zu bleiben. Während beispielsweise der IM Sascha Anderson andere oppositionelle Gruppen in Prenzlauer Berg infiltriert, kommt er an die radix-Blätter nicht heran.„Von den radix-Blättern erzählt man oft, wir wären jeglicher Bespitzelung entkommen, aber das stimmt nicht ganz. An mich haben vier Mitarbeiter*innen der Stasi versucht, heranzukommen, aber nur eine Person hat es in eine der Redaktionsgruppen geschafft und nie den gesamten Produktionsablauf überblicken können. Die beiden IM Sascha Anderson und Rainer Schedlinski haben in der Dimitroffstraße bei einem Besuch große Mengen von Druckerzeugnissen übersehen“, erzählt der 62-Jährige.

 

Bei der Produktion der radix-Blätter galt strengste Geheimhaltung / Foto: privat

Priorität: Geheimhaltung

Außer Stephan Bickhardt kennt niemand den geheimen Ort der Druckerei, in der die radix-Blätter ihre papierene Form annehmen: eine Kammer hinter dem Schlafzimmer seiner Eltern in deren Haus in Kaulsdorf Nord. Hier parkt das Stasi-Auto nicht auf der Straße, wie vor Bickhardts Wohnung in Prenzlauer Berg.

„In Untergrundgruppen gibt es immer die Gefahr, dass sich autoritäre Strukturen entwickeln. Es entsteht schnell ein Gefühl der Unersetzlichkeit; wenn ich es nicht mache, dann macht es keiner. Da können sich unangenehme Machtgefüge bilden. Ich war mir sehr bewusst, dass man dem entgegenwirken muss“, sagt Bickhardt über die Verantwortung, die er mit dem Projekt auf sich genommen hatte. Er behält sich die Wahl der Titel für die einzelnen Hefte vor. Eine weitere Strategie, die aufgeht; von außen wirkt jedes Heft der Zeitschriftenreihe wie ein Einzelheft. Der Aufdruck ‚radix-Blätter‘ befindet sich im inneren der Zeitschriften verborgen.

 

Ost und West

Die Themen, welche ihren Weg in die radix-Blätter finden, gehen oft aus Diskussionen in Kirchengruppen oder der Mitarbeiter*innen hervor. Denn zu den Samisdat-Publikationen in Polen und Tschechien gibt es einige Unterschiede.

Bickhardt erklärt: „In Ostdeutschland konnte ein Teil des Informationsbedürfnisses von heimlich konsumierten Westmedien gestillt werden, weil man sich im selben Sprachraum befand. Kritischen Intellektuellen und Aktivist*innen genügte das natürlich nicht. In Tschechien allerdings gab es gar keine freie Literatur in der Landessprache, sodass alleine in der Libri Prohibiti, dem tschechischen Samisdat-Archiv in Prag, 16.000 verschiedene Publikationen zusammengetragen wurden. Dieses Fluidum der intellektuellen Selbstbehauptung gegen den starken Staat war faszinierend und hat auch junge Menschen aus der DDR beflügelt. Die politischen Schriften unter diesen Publikationen waren meistens schärfer in ihrer Kritik am Kommunismus, als ostdeutsche Zeitschriften.“

Die Brücke zum Westen ermöglicht der Opposition in der DDR auch die technische Seite der Herstellung eigenständiger Zeitschriften. Tinte und Druckzubehör, wie die Maschinen selbst, werden meistens von westlichen Aktivist*innen und Politiker*innen oder Journalist*innen über die Grenze geschmuggelt. Zahlreiche oppositionelle Projekte erhalten außerdem Unterstützung von Kirchengemeinden in der DDR, die durch ihre Sonderdruckgenehmigung in den Genuss von Freiheiten kommen. Die radix-Blätter bekommen beispielsweise Papier, in der DDR Mangelware, aus den Kellerbeständen des Katharinenstifts in der Greifswalder Straße.

 

Mehr als eine Zeitschrift

Unter Titeln wie „Schattenverschlüsse“, Spuren” und „Wohnsinn”, behandeln die radix-Blätter bis 1990 verschiedene Themen aus Kunst, Kultur und Politik, oft versehen mit künstlerischen Grafiken und immer mit den Klarnamen der jeweiligen Autor*innen. Wie in anderen Samisdat-Projekten sind diese überwiegend männlich. „Auch bei uns gab es prozentual weniger Frauen als Männer. Allerdings war bei den meisten oppositionellen Bewegungen in der DDR zu beobachten, dass diejenigen Frauen, die sich engagierten haben, sehr großen Einfluss hatten“, kommentiert Bickhardt diese Auffälligkeit.

Aus dem Umkreis der Zeitschrift, die sich immer als Anreiz für weitergehende Aktivitäten verstanden hat, gehen zahlreiche Projekte künstlerischer und politischer Natur hervor. Im Jahr 1989 gründen Mehlhorn und Bickhardt die Initiative „Demokratie Jetzt!“, die sich später ins Bündnis 90 der Grünen integriert. Heute arbeitet Stephan Bickhardt als evangelisch-lutherischer Pfarrer und leitet die Evangelische Akademie Sachsen.

Rückblickend auf seine Zeit als Samisdat-Herausgeber sagt er: „Heute ist Freiheit vielfach rechtlich zugesprochen, damals war sie es nicht. Für unser Selbstverständnis war übrigens der Begriff der Unabhängigkeit noch wichtiger als der der Freiheit. Wir wollten unabhängig sein. Denn unabhängig zu sein bedeutet, selbst oder mit anderen festzulegen, was man will. Das ist auch aktuell, in einer Welt der vielen Angebote, aus meiner Sicht besonders wichtig, um stabile soziale Beziehungen auf Dauer zu leben – und sich zu engagieren!“

 

Titelbild: Stephan Bickhardt mit Dorothea Höck (links) und Maria Zadencka von der Gewerkschaft Solidarność / Foto: Stephan Bickhardt

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