Tausende Menschen sind seit dem Einmarsch Russlands aus der Ukraine nach Berlin geflohen. Wie geht es ihnen heute? Eine Familie aus Kyiv erzählt.
In Prenzlauer Berg gibt es eine Wohnung, die Iryna und ihren Kindern Oleksandra und Heorhii auf dem Weg zu ihrer Unabhängigkeit helfen soll. Die Familie musste aus der Ukraine flüchten und lebt seit drei Monaten in Berlin. Über eine Wohnungsvermittlungsplattform, über deren Koordinatorin Galy Pidpruzhnykova wir Mitte März berichteten, kamen sie bisher bei einem Ehepaar in Steglitz unter, wo sich die drei ein Zimmer teilen. Jetzt aber klappt es endlich mit dem Umzug in eine eigene Wohnung in Prenzlauer Berg.
Doch selbst nach der Flucht aus dem Kriegsgebiet muss die Familie hier in Berlin noch einige Hürden überwinden. Ihre Suche nach einer langfristigen Bleibe startet, wie bei fast allen, auf einschlägigen Immobilienseiten. Dort ist es aber fast unmöglich, fündig zu werden. Besonders für geflüchtete Menschen, die auf dem ohnehin kompetitiven Markt kaum konkurrieren können. Zudem braucht die Familie eine Wohnung zu einem Preis, den das Sozialamt übernehmen würde.
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„Warten Sie auf einen Brief“
Gleichzeitig versuchen sie, sich im deutschen Behörden-Dschungel zurechtzufinden, die rechtlichen Folgen ihrer Flucht werden zur gigantischen Herausforderung. „Hilfreich wäre eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wann man welches Dokument wo einreichen soll, und was die Folge daraus ist“, erzählt Iryna. Obwohl ihre Gastgeber Vollzeit im Flüchtlingszentrum Steglitz helfen und routiniert die richtigen Dokumente beschaffen können, haben auch sie das System nicht vollständig verstanden. Versucht die Familie, bei Behörden nachzufragen, kommt meist die Antwort: „Warten Sie auf einen Brief.“
Ihr Glück: Sie kennen die Ukrainerin Galy Pidpruzhnykova, die sich um die Wohnungsvermittlung von geflüchteten Ukrainer*innen kümmert. Unseren Text über sie hat auch ein Mann gelesen, der heute nicht mehr in Prenzlauer Berg, sondern in einer anderen deutschen Großstadt lebt. Er wollte helfen und bot Galy seine leerstehende Wohnung in Prenzlauer Berg an, die diese an Ukrainer*innen weitervermitteln sollte. Und das kostenlos. Doch Galy hatte eine andere Idee. Sie wollte, dass eine Familie langfristig von der Wohnung profitieren konnte und so einigten sie sich auf einen günstigen Mietpreis, den auch das Sozialamt akzeptieren würde. „Da war so viel Mitgefühl und Liebe von einem Fremden“, erzählt Galy später.
Ohne Internet geht es nicht
Eigentlich aber sollte die Familie längst in Prenzlauer Berg wohnen. Seit dem 1. April läuft der Vertrag. Der Grund für den verspäteten Einzug war erst die Bürokratie, dann das Internet. Denn obwohl die Wohnung nahe des Volksparks Friedrichshain liegt, gibt es dort nicht mal Handyempfang. Ohne den können aber vor allem Oleksandra und Heorhii ihren Alltag nicht weiter bestreiten. Denn der 14-jährige Heorhii machte bis vor kurzem den Online-Schulunterricht in der Ukraine mit.
Rund die Hälfte seiner Klassenkamerad*innen sind mittlerweile in die Ukraine zurückgekehrt; unterbrochen wurde der Unterricht zuletzt nicht mehr so häufig von Bombenalarm, wie es in den ersten Kriegsmonaten der Fall war. Jetzt haben für ihn die Sommerferien begonnen, für seine Schwester Oleksandra aber fallen die in diesem Jahr aus. Die 19-jährige Studentin ist im letzten Semester ihres Pharmazie-Studiums. Weil im März und April nicht ans Studium zu denken war, werden die ausgefallenen Vorlesungen bis Ende August nachgeholt. Ohne WLAN aber kein Studium.
Kein Unterschied in der Mentalität
Worauf sich die Familie am meisten freut, wenn sie umzieht? Nicht etwa auf den zusätzlichen Platz, sondern die Chance, unabhängiger zu werden, sich voll integrieren und mittels Internet und Kursen die deutsche Sprache lernen zu können. Weil fast alle behördlichen Dokumente zumindest teilweise auf Deutsch seien, sei es wichtig, dass alle Gastgeber*innen den Ukrainer*innen bei der Übersetzung helfen. Das Ehepaar aus Steglitz unterstützte nicht nur dabei, sondern auch bei der Integration der Familie vor Ort, wie Iryna erzählt.
„Wir spüren keinen Unterschied in der Mentalität zwischen Deutschen und Ukrainern“, erzählt sie im Gespräch. „Die Menschen helfen proaktiv, alle Konflikte zu glätten. Sie geben sich viel Mühe, Verständnis zu zeigen und wirklich entgegenkommend zu sein. Damit meine ich nicht nur unsere Gastgeber, sondern auch die Leute, die wir durch die Gastgeber treffen. Generell alle, die wir hier getroffen haben, waren sehr zuvorkommend.“ Im Gespräch betont sie mehrmals, wie dankbar sie sei und wie sehr sie sich unterstützt fühle.
Die Familie, so erzählt sie, habe schon ganz Berlin mit der U-Bahn erkundet, nimmt regelmäßig an Protesten und Veranstaltungen für Ukrainer*innen teil und verbringt viel Zeit in Kletterparks. „Kyiv und Berlin sind sich sehr ähnlich. Uns fällt aber auf, dass Berlin deutlich größer ist, weil die Häuser hier kleiner sind als unsere Hochhäuser in Kyiv. Kyiv ist grün, aber Berlin ist noch grüner. Das gefällt uns sehr.“ Langfristig aber wollen sie nicht hier bleiben. Iryna hat vor, sobald sie sich dort sicher fühlen kann, zu ihrem Mann in die Ukraine zurückzukehren. Oleksandra und Heorhii sollen in Deutschland ihre Ausbildung beenden und dürfen danach selbst entscheiden, wo sie leben wollen. Momentan haben beiden den gleichen Plan „Wir wollen in die Ukraine zurückkehren, weil wir unsere Wirtschaft wiederaufbauen müssen“, sagt Oleksandra.
Verstehen lernen
Ihnen ist wichtig, dass die Menschen in Deutschland verstehen, dass die Ukrainer*innen, die jetzt hier leben, traumatisiert sind. Iryna erzählt, dass sie keine Geflüchteten aus der Ukraine getroffen habe, die nicht innerlich vollkommen gebrochen waren. Anfangs habe man das allen geflüchteten Ukrainer*innen direkt angesehen, niemand konnte sein Trauma verbergen. Als sie hier in Deutschland ankamen, erzählt die Familie, hatten sie sogar Angst vor den Hubschraubern. Jedes Mal, wenn sie ein lautes Geräusch hörten, schauten sie aus den Fenstern. Sie brauchten Wochen, um zu verstehen, dass sie jetzt in Sicherheit sind und niemand sie töten würde. Dabei habe vor allem geholfen, die deutsche Familie um sich zu haben. Jetzt aber haben die Geflüchteten gelernt, ihre Angst zu unterdrücken, meint Iryna.
Doch trotzdem beginnt jeder Morgen der Familie damit, Nachrichten zu lesen, die Familie anzurufen und zu fragen, ob sie noch am Leben sind. Alle, die auf der Flucht sind, kommen aus einem Kriegsgebiet und brauchen Unterstützung in Bezug auf psychische Gesundheit, betont Iryna, derzeit aber gäbe es kein spezielles Angebot für sie. Daher sei es wichtig, den Geflüchteten Geduld entgegenzubringen, weil sie Zeit brauchen, um sich zu erholen. Die Tochter Oleksandra, deren männlichen Studienkollegen es untersagt ist, das Land zu verlassen, erzählt, wie sich die Situation momentan für sie anfühlt: „Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm. Jeder erwartet, dass es wieder schlimmer wird, also ist nur unklar, wann. Es fühlt sich an wie ein endloser Kampf und niemand weiß, wann er enden wird.“
Als sie selbst noch in der Ukraine waren, und in ihrer Datscha in der Nähe von Kyiv ausharrten, gab es tagelang keinen Strom. Wenn es für ein paar Minuten doch möglich war, ins Internet zu gehen, sah sie die Proteste in Deutschland, Frankreich, Italien, in ganz Europa. „Zu wissen, wie viele Menschen uns unterstützten, bedeutete uns die ganze Welt. Ohne zu wissen, dass Europa uns so sehr unterstützt, hätten wir nicht die Kraft und Stärke gehabt, zu überleben. Es bedeutet wirklich viel, einen Ort zu haben, an den wir gehen können.“
Titelbild: Iryna mit Sohn Heorhii und Tochter Oleksanda / Foto: Sonja Koller