Ukraine

Ein Bett ist nicht genug

von Sonja Koller 17. März 2022

Von ihrer Wohnung in der Stargarder Straße koordiniert Galy Pidpruzhnykova Wohnungen für Menschen, die aus der Ukraine flüchten mussten. Die Ukrainerin weiß, wo Hilfe wirklich gebraucht wird.


Galy, du bist Ukrainerin. Wo genau bist du geboren und aufgewachsen und hast du noch Familie im Land?

Ich komme ursprünglich aus Charkiw, das ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine und eine der Städte, die jetzt sehr stark bombardiert wurden. Ich habe dort gelebt, bis ich zehn Jahre alt war, und bin dann nach Kyiv gezogen. Dort habe ich elf weitere Jahre verbracht, bis ich mit 21 für meinen Master nach Deutschland gezogen bin. Seit zehn Jahren lebe ich jetzt in Deutschland und der Schweiz, seit vier Jahren in Berlin. Meine Eltern wohnen schon seit einigen Jahren in Spanien, mein Bruder in Polen. Aber meine Tante lebt noch in Luhansk und mein Großvater und mein Onkel im Stadtzentrum von Charkiw. Vom zweiten Tag des Krieges an fuhren dort Panzer auf der Straße. Die beiden leben zwanzig Minuten zu Fuß vom bombardierten Hauptplatz der Stadt entfernt.

Also habe ich wirklich Angst, weil sie sich weigern, Charkiv zu verlassen. Es ist der zweite Krieg im Leben meines Großvaters, der jetzt 82 Jahre alt ist. Er sagt, wenn Gott will, dass er so stirbt, wird er es akzeptieren. Mein Onkel ist 52 Jahre alt und sagt, er wird bleiben, weil er sich jetzt um 48 Menschen kümmert, die noch in seinem Hochhaus sind. Viele von ihnen sind alt und können sich keine Lebensmittel kaufen. Also organisiert er Essen für sie. Gemeinsam bereiten sie auch Molotow-Cocktails vor, um ihr Haus zu verteidigen. Viele meiner Freunde und Teile meiner Großfamilie sind in Kyiv oder waren es bis vor kurzem. Die Meisten von ihnen dachten, der Krieg würde nur eine Woche dauern, also entschieden sie sich zu bleiben. Jetzt sind sie sehr ängstlich, weil sie so nah an Orten wohnen, an denen Bomben einschlagen und ständig Panzer vorbeifahren. Manche hatten tagelang keinen Strom oder Internet und ich wusste nicht, ob sie noch leben.

 

Was berichten die Menschen aus der Ukraine, mit denen du in Kontakt bist?

Ich habe Ressourcen für psychische Gesundheitshilfe gesammelt, weil die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wirklich traumatisiert sind. Aber als ich anfing mit Bekannten über psychologische Hilfe zu sprechen, die in den Vororten von Kyiv tagelang ohne Strom überlebten, fingen sie gleich an zu weinen. Sie fliehen jetzt, wollen erstmal gut nach Deutschland kommen und erst dann mit Psychologen sprechen. Sie meinen, wenn sie jetzt damit anfangen würden, wären sie wie gelähmt und könnten ihre Flucht nicht fortsetzen. Die Menschen befinden sich also im Überlebensmodus. Am Wochenende war ich auf der Demonstration am Brandenburger Tor und habe viele Leute getroffen, die ich aus der Ukraine kannte. Alte Schulkameraden oder Kollegen meiner Eltern. Und wir alle funktionieren nur noch auf Autopilot.

 

Sollen Personen, die helfen wollen, am besten einfach an den Hauptbahnhof kommen?

Es hängt davon ab, was man als Freiwillige  verarbeiten kann. Für mich war es zu schmerzhaft, in die vielen persönlichen Geschichten von Menschen eingebunden zu werden. Also habe ich mich vor allem auf Effizienz konzentriert und mich gefragt, wie ich die größtmögliche Zahl an Menschen erreichen und ihnen helfen kann. Für mich ist das freiwillige Engagement auf der deutschlandspezifischen Wohnungsplattform Wunderflats. Dort verbinden wir private Gastgeber, die Betten bei sich zu Hause anbieten, mit geflüchteten Menschen. In der letzten Woche habe ich mich dort für fünf Tage engagiert und über tausend Ukrainer mit Helferinnen zusammengebracht. Es war also sehr effektiv und schön, die Hilfsbereitschaft der Menschen zu sehen. Soweit ich weiß, sind tagsüber aktuell genug Leute am Hauptbahnhof. Wichtig wäre aber, dass vor allem russisch- und ukrainischsprachige Menschen auch nachts aushelfen. Viele Flüchtlinge kommen spät abends oder früh morgens in Berlin an. Zu diesen Zeiten gibt es aber nur noch wenige Helfer vor Ort.

 

 Wie könnte ich bei der Wohnungssuche helfen?

Wer sich wie ich bei der Plattform Wunderflats ehrenamtlich engagieren will, muss dies an vier Tagen in der Woche mindestens vier Stunden tun, damit es für die Plattform effizient ist, sie mit an Bord zu nehmen. Eine andere Möglichkeit zu helfen ist, tatsächlich zum Hauptbahnhof zu gehen. Die Menschen, die dort ankommen, brauchen Personen, die ihre Sprache sprechen und sie tröstet. Also war auch ich dort und habe bei der Übersetzung und dem Matching von Wohnungen geholfen.

 

Und wenn ich nicht persönlich helfen kann oder will?

Es gibt einige Möglichkeiten, persönlich zu helfen, aber natürlich hilft auch eine Spende. Ich persönlich spende für militärische Zwecke, weil viele Unternehmen das nicht dürfen und an Organisationen spenden müssen, die auf humanitäre Weise helfen. Deshalb finde ich es wichtig, dass Privatpersonen diese Art von Spenden übernehmen. Warum erklärt für mich dieser einfache Satz: „Wenn Russland aufhört zu kämpfen, gibt es keinen Krieg mehr, wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, gibt es keine Ukraine mehr.“ Für mich fühlt es sich so an, dass jedes Mal, wenn etwa ein Kloster zerstört wird, auch ein Teil meiner Identität zerstört wird. Das ist wirklich schmerzhaft. Also unterstütze ich die militärische Ausrüstung. Auch die Zivilverteidigung benötigt Rüstungen, Helme oder Walkie-Talkies für die Kommunikation.

 

Gibt es Orte in Prenzlauer Berg, bei denen noch Helfer gebraucht werden?

Das Restaurant Datscha in der Stargarder Straße hat in der vergangenen Woche Hilfsgüter gesammelt, auch ich habe einige Sachen dorthin gebracht. Weil die Menge an Spenden aber zu überwältigend war, wird in der Filiale hier in Prenzlauer Berg  jetzt nichts mehr gesammelt. Die Orte, an denen Hilfe wirklich gebraucht wird, sind Ankunftsbahnhöfe und Meldestellen. In Prenzlauer Berg haben wir keine davon. Hauptstandorte sind also Hauptbahnhof, ZOB, Oranienburger Straße und Reinickendorf. Dort werden Freiwillige eingesetzt und Spenden gesammelt.

 

Man hört in den letzten Tagen verstärkt davon, dass bei der Vermittlung von Wohnungen auch Gefahren lauern. Was hat man in dem Bereich verbessert?

Anfangs wurden Wohnungen am Hauptbahnhof ziemlich anonym und schnell an Privatpersonen zugewiesen, die das vor Ort angeboten haben. Weil es keine Ausweisfotos oder Hintergrundinformationen zu den Personen gab, war das aber durchaus unsicher. Jetzt, wo wir dafür stattdessen Wunderflats oder sogar Airbnb haben, ist das viel sicherer. Dort gibt es eine Identitätsprüfung und wir können nachverfolgen, welche Person wir mit welcher zusammengebracht haben, kennen ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer. Weil es immer mehr Berichte darüber gibt, wie unsicher solche kurzfristigen Wohngemeinschaften sein können, habe ich dieses Wochenende genutzt, um dazu Informationen zu sammeln. Ich habe verschiedene Hotlines angerufen und recherchiert, wo Leute anrufen können, wenn sie in Gefahr sind. Ich lese momentan auch viel über die rechtliche Seite der Dinge und wo sich geflüchtete Ukrainerinnen registrieren müssen. Zu all diesen Themen habe ich Dokumente mit Richtlinien vorbereitet, dass ich geflüchteten Menschen  weiterleite.

 

Woran muss ich denken, wenn ich Leute aufnehmen möchte?

Am besten ist es, wenn man sich erst mal bei offiziellen Portalen anmeldet und angibt, für wie lange man Menschen beherbergen kann. Wichtig ist es nicht nur, ein Bett bereitzustellen, sondern auch persönlich auf die Menschen zuzugehen. Wenn geflüchtete Ukrainer in eines der Evakuierungslager geschickt werden, wo es bis zu 3500 Betten gibt, wird es viel länger dauern, sie zu integrieren. Ich habe zum Beispiel für die Familie meines Patenonkels in Steglitz eine private Unterkunft gefunden, deren Besitzer schon vor seiner Ankunft viel geholfen haben. Bei einem Telefonat mit mir haben sie erzählt, dass der Großvater Russisch spricht, er wird also vorbeikommen. Sie haben auch vor, gemeinsam mit der Familie meines Patenonkels zum Rathaus und zum Sozialamt zu gehen, um bei der Registrierung zu helfen. Und sie haben sie bereits gefragt, ob die Familie etwas Bestimmtes braucht, wann sie ankommen, welches Essen sie am liebsten hätten und ihnen Bilder des Zimmers geschickt. Sie waren einfach so herzlich und einladend, und ich denke, das ist genau das, was die Menschen jetzt brauchen, weil sie wirklich schwer traumatisiert sind. Zu sehen, dass sie willkommen sind und sich mit den Einheimischen austauschen, ist sehr hilfreich für sie.

 

Du kannst nun nicht mehr Vollzeit helfen, wie du es in den letzten 10 Tagen getan hast. Wie sieht dein Alltag jetzt aus?

Weil ich jetzt wieder Vollzeit arbeiten muss, wache ich zwei Stunden früher als normalerweise auf und bringe Leute für Wohnungen zusammen, bereite Informationen vor oder beantworte Fragen, die ich über Nacht erhalten habe. Dann fange ich an, in meinem eigentlichen Job zu arbeiten und nehme dabei manchmal wichtige Anrufe entgegen. Für die meisten der Situationen, für die ich dann gebraucht werde, habe ich einige Links gesammelt. Wenn also jemand einen Job sucht, kann ich ihm zehn Links schicken, das gleiche gilt für Leute, die medizinische Versorgung brauchen. Manchmal verbinde ich sie auch mit anderen Personen, die helfen können, und übersetze. Abends, nachdem ich meine Arbeit beendet habe, vermittle ich weiter Wohnungen.

 

Wie schaffst du es, mit der Situation persönlich umzugehen?

Neben all der Tragik bin ich sehr dankbar, so eine große Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit von Menschen zu sehen, die teilweise gar keine Verbindung zur Ukraine haben. Es gab mehrere Situationen und Geschichten, bei denen ich in Tränen ausgebrochen bin, weil ich die Freundlichkeit nicht fassen konnte. Obwohl ich noch nie so viel Leid und Schmerz gesehen habe, habe ich auch noch nie so viel so viel Liebe und Mitgefühl erlebt. Deshalb möchte ich den Deutschen und allen Menschen in den Nachbarländern wie Polen, der Slowakei und Moldawien dafür danken, dass sie die Menschen hier willkommen heißen und auch wirklich unterstützen.

 

Foto: Sonja Koller

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1 Kommentar

Michael Schultze 17. März 2022 at 18:38

Guten Abend Frau Koller,
Freunde und ich werden in der Stargarderstr 12a eine kleine, möblierte SF-Wohnung für Ukraine Flüchtlinge zur Verfügung stellen.
Da ich noch nicht weiß, inwieweit der Hausbesitzer sich um Bewohner diesbezüglich kümmert, wäre es schön die Kontaktdaten, Tel, email von Frau Galy Pidpruzhnykova in der Stargarderstr. zu erfahren.
Sie koordiniert ja Flüchtlinge & WohnungsGeber….

Besten Dank & nur gemeinsam stoppen wir Putin…

Gruß,
Michael Schultze

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