Die russischsprachige Kultur am Prenzlauer Berg hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte stark gewandelt. Wir sprachen mit Kulturschaffenden über Agentengesetze, Berliner Brücken und Kulturförderung.
Wer auf einem Spaziergang durch den Prenzlauer Berg am Kino Krokodil, dem Supermarkt Kasatschok oder dem Restaurant Pasternak vorbeikommt, kann leicht den Eindruck gewinnen, das berühmte russische Berlin der zwanziger Jahre sei nach der Wende wieder auferstanden. Tatsächlich lebten im Jahr 2010 in der Stadt noch 15.000 Angehörige der Russischen Föderation, 2018 waren es bereits 25.000. Die Zahl der Berliner Bürger, die vorwiegend russisch sprechen, wird sogar auf 200–300.000 geschätzt.
Einen der wichtigsten Anlaufpunkte russischsprachiger Kultur am Prenzlauer Berg bietet der 2009 als Panda Theater gegründete gemeinnützige Verein Panda Platforma in der Kulturbrauerei. „In den späten Achtzigern und frühen Neunzigern war das Interesse an Kultur aus dem sowjetischen und dann post-sowjetischen Raum in Berlin sehr groß“, erzählt die Vereinsvorsitzende Svetlana Müller. Sie selbst kommt ursprünglich aus der Musikbranche und organisierte zu Zeiten der Perestroika und der Nachwendezeit deutschlandweit Konzerte. „Da musste man nur ankündigen, dass eine Band aus St. Petersburg oder Kasan spielt und die Leute sind in Scharen gekommen. Heute ist das anders, der Markt ist gesättigt.“ Dennoch erhält Panda Platforma jeden Monat hunderte Zuschriften von Künstlern, die hier auftreten möchten.
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Die Hoffnung nicht aufgeben
Bei der Auswahl ihrer Gäste gibt es neben künstlerischen Kriterien auch Sicherheitsaspekte zu beachten, vor allem für die in Russland Lebenden. „Wenn du Geld aus dem Ausland bekommst, sei es auch nur für eine Lesung oder ein Konzert, musst dich auch als Privatperson als `ausländischer Agent` registrieren lassen“, so Müller über das 2012 implementierte und 2017 verschärfte Gesetz zu ausländischer Finanzierung. Für einige Künstler ist ein Auftritt im Ausland daher mit erheblichen Risiken verbunden. Aufgrund der politischen Situation kommen aktuell verstärkt Menschen aus Russland nach Berlin. Landläufig ist sogar von einer „dritten Migrationswelle“ die Rede. Panda Platforma bezieht klare Stellung: „Akteuren, die Putin offen unterstützen, bieten wir hier keine Bühne“, sagt Müller.
Auf die Frage, ob sie einen politischen Wandel in Russland für möglich hält, erwähnt Müller die Digitalisierung von Protestbewegungen. Zwar würden diese einerseits die Organisation von Kundgebungen und Demonstrationen vereinfachen, führe andererseits aber zu weitgreifenden Überwachungsmöglichkeiten durch den Staat. Dennoch betont sie: „Ich liebe Russland und gebe die Hoffnung nicht auf. In unserem Programm verarbeiten Künstler*innen zum Teil bittere Erfahrungen, aber auch das kann konstruktiv sein.“
Neben der Vermittlung von demokratischen Werten spielt für Panda Platforma auch die internationale Ausrichtung der Inhalte eine wichtige Rolle. So werden beispielsweise neben russischen Poetry Slams auch experimentelle Jazzabende und World Music angeboten. Außer durch Music Board, einer Fördereinrichtung des Berliner Senats zur Unterstützung alternativer Clubkultur, hat Panda Platforma bislang noch keine langfristige Förderung erhalten. Die Mitarbeiter betätigen sich auf ehrenamtlicher Basis.
Brücke zwischen den Kulturen
Auch die Galeristin Marina Vinogradova, die seit 2007 die Galerie Vinogradov in der Chodowieckistraße führt, hat noch nicht viel von der Kulturverwaltung gesehen: „Vielleicht bin ich nicht aufdringlich genug“. So besuche beispielsweise niemand von offizieller Seite ihre Ausstellungen, auch wenn diese oftmals einen gesellschaftspolitischen Charakter hätten. Beim touristischen Stammtisch in Pankow ließen sich nur äußerst selten Mitarbeiter blicken.
Vinogradova stellt internationale Künstlerinnen mit Schwerpunkt auf der russischsprachigen Welt aus. Die Unterhaltungskosten der Galerie verdient sie als Museumsführerin in St. Petersburger und Moskauer Galerien. Sowohl Exponate von wenig bekannten Namen als auch von international gefeierten Stars der Kunstszene, wie dem Animationskünstler Yuri Norstein finden den Weg in ihre Berliner Ausstellungsräume. „Die Galerie ist ein wichtiger Knotenpunkt zur Vernetzung unter den Künstlern“, sagt Michael Schnittmann, der im November dieses Jahres hier ausstellte. „Im Atelier kocht man doch immer im eigenen Saft. Wenn ich meine Kollegen sehen will, komme ich hierher.“
Ziel der Galeristin ist es, eine Brücke zwischen russischsprachiger und deutscher Kultur zu schaffen. Zu diesem Bild hat sie die Berliner Schloßbrücke inspiriert, deren Geländer als Replik auf der Antitschow-Brücke in St. Petersburg zu sehen ist – ein Geschenk von Friedrich Wilhelm dem IV. an Zar Nikolaus den I. Neben Ausstellungen mit Kreativen aus dem postsowjetischen und internationalen Raum entstehen Kooperationen mit anderen Galerien. Dabei achtet Vinogradova vor allem auf die handwerkliche Qualität, die, wie sie betont, an den russischen Kunsthochschulen nach wie vor eine große Rolle spielt.
Projektionsfläche für Träume und Entwürfe
Der Berliner Autor Wladimir Kaminer, bekannt geworden durch Bücher wie „Russendisko“ und selbst 1990 aus Russland nach Berlin eimigriert, glaubt, dass nach der Corona-Pandemie zahlreiche Bürogebäude in Kunst- und Kulturstätten umgebaut werden könnten. „Je mehr überflüssige Menschen hier sind, desto mehr Kunst und Kultur wird entstehen, weil Kunst und Kultur auch überflüssig sind! Mich interessieren immer die Überflüssigen, nicht die Superhelden, nicht die diejenigen, die was können, sondern die, die zu nichts zu gebrauchen sind. Und das ist der Prenzlauer Berg“, sagt Kaminer mit einem Augenzwinkern.
Kaminer selbst bezeichnet sich als Kosmopolit, der Kultur „nicht nach ethnischen oder nationalen Merkmalen“ auseinanderhalten möchte. Sein im Jahr 2000 erschienenes Erfolgsbuch „Russendisko“ sei nicht so sehr ein Buch über Russen, sondern über den Osten Berlins. „Damals diente diese Gegend als Projektionsfläche für Entwürfe und Träume aller möglichen Menschen – nicht nur Russen, sondern auch vielen aus dem Westen, die in ihren katholischen Heimatstädten ihre Lebensentwürfe nicht verwirklichen konnten. Also suchten sie nach einem neuen Ort; nach einem leeren Ort. Selbst heute – ich wohne gegenüber vom Mauerpark – wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich diese leere Fläche. Das ist, glaube ich, eine sehr typische Berliner Sehenswürdigkeit, dieser Mauerpark: es gibt weder einen Park, noch eine Mauer. Das ist nur eine Bezeichnung und jeder kann darauf projizieren, was er möchte.“
Auch die Definition einer russischsprachigen Kulturszene in Berlin interpretiert und beschreibt jeder anders. Für manche ist sie ein wichtiges Netzwerk und Treffpunkt, für andere nur eines von vielen Fragmenten der internationalen Künstlerwelt Berlins. In jedem Fall wächst sie weiter und wird vielfältiger – wie der Prenzlauer Berg selbst.
Titelfoto: Vereinsvorsitzende Svetlana Müller vor den Räumlichkeiten der Panda Platforma. © Svetlana Müller