Seit 1966 wohnt Helga Paris in der Winsstraße, hat über viele Jahre den Alltag in der DDR fotografisch festgehalten. Die Akademie der Künste zeigt nun ihr Werk in einer umfassenden Retrospektive.
Man muss ein paar Mal blinzeln und den Kopf schräg legen, bevor man die schwarz-weiß-Fotografie an der Wand mit dem heutigen Bild im Kopf zusammenbringen kann: Die Winsstraße in den 1970er Jahren, gezeichnet von rußigen Altbauten und maroden Fassaden, mit akkurat geparkten Trabanten und nur wenigen Passanten – über allem ein grauer Nebelschleier. Der Unterschied zu heute, wo Biomärkte, Bistros und SUVs das Straßenbild von Prenzlauer Berg prägen, könnte nicht größer sein.
Dies ist ein Text aus unserer Reihe
„Mauerfall revisited“
Wer sich in der Akademie der Künste am Pariser Platz in den Kosmos von Helga Paris begibt, geht also gleichzeitig auf Zeitreise: Mitte der 1960er Jahre begann die 1938 im damals noch pommerschen Gollnow geborene und gelernte Modegestalterin, ihre Berliner Umgebung mit der Kamera festzuhalten. Von der ersten Aufnahme ihrer beiden Kinder Jenny und Robert – Robert Paris wird später in die Fußstapfen seiner Mutter treten –, die zwischen Spitzengardinen sitzen und aus dem Fenster schauen, arbeitet sie sich nach und nach zu einer „Chronistin von Prenzlauer Berg“ hervor.
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Frei von Ideologie
Dabei geht es ihr nicht um das von der DDR-Obrigkeit gewünschte Bild einer produktiven sozialistischen Gesellschaft; sie fotografiert die Frauen des Bekleidungswerks VEB Treffmodelle Berlin auf der Greifswalder Straße mit Kittelschürze und müdem Gesicht, nimmt ihre Kamera in die Eckkneipen des Kiezes mit, lichtet Teenager in Hinterhöfen und Treppenhäusern ab, hält Abende mit anderen Künstler*innen und Literat*innen wie Christa Wolf und Katja Lange-Müller fest. Und kommt über all die Jahre immer wieder auf sich selbst als Sujet zurück: Wo immer ein Spiegel steht, liegt auch das Potential für ein Selbstporträt.
Später zieht es Helga Paris von Prenzlauer Berg in die Welt hinaus; zunächst, noch hinter dem „Eisernen Vorhang“, fotografiert sie unter anderem in Leipzig und Halle, dann auch in Rumänien und Georgien. Nicht immer ist das gern gesehen: Obwohl sie den sichtbaren Verfall der Stadt Halle in erster Linie unter einem künstlerischen und weniger politischen Aspekt dokumentiert, wird eine Ausstellung der Bilder kurz vor Beginn abgesagt – öffentlich zu sehen sind die Aufnahmen erst nach 1989. Später reist sie nach Moskau und New York, doch richtet sie das Objektiv immer wieder auf Berlin und bleibt – trotz Farbfilm und Digitalisierung – dem körnigen Schwarz-Weiß treu.
Intim, aber nicht voyeuristisch
Mit 275 Fotografien aus den 1960er Jahren bis in die Nullerjahre – es ist die bislang größte Einzelausstellung ihrer Werke – zeigt die Akademie der Künste das Oeuvre einer Künstlerin, die sich das Fotografieren autodidaktisch aneignete und dennoch von Beginn an mit einem Auge für akkuraten Bildaufbau und Atmosphäre arbeitete.
Im Mittelpunkt steht fast immer der Mensch, eingefangen in Momentaufnahmen und mit einem intimen, aber niemals voyeuristischen Blick. Die DDR ist oft präsent und spielt doch nicht die Hauptrolle, auch Mauerfall und Nachwendezeit sind höchstens unterschwellig spürbar. 2011 beendete Helga Paris ihre fotografische Karriere mit einer Porträtserie von Menschen auf dem Alexanderplatz. Seitdem sei es ruhig in ihr, sagte sie in einem Interview, sie habe nicht mehr den Wunsch, zu fotografieren.
Die Ausstellung „Helga Paris, Fotografin“ ist bis zum 12. Januar 2020 in der Akademie der Künste am Pariser Platz zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag von 11-19 Uhr, der Eintritt kostet 6€/4€.
Foto oben: Helga Paris: Winsstraße mit Taube, 1970er-Jahre/ Aus Berlin 1974–1982 / Foto © Helga Paris. Quelle: ifa