Der Alexander Verlag hat eine Höredition mit bislang unzugänglichen Originaltönen des Dramatikers herausgebracht. Kommenden Samstag werden sie als Klanginstallation im „Kleinen Wasserspeicher“ zu hören sein.
36 Stunden O-Töne von Heiner Müller – da darf man schon mal fragen, wer sich das eigentlich alles anhören soll. Der Alexander Verlag hat jetzt eine umfassende Sammlung von Tonaufnahmen des Dramatikers herausgebracht: Vier CDs, auf denen Müller eigene und fremde Texte liest, Interviews gibt, Gespräche führt, Reden hält. Es sind Mitschnitte und Aufzeichnungen aus den Jahren zwischen 1972 bis zu seinem Tod 1995, das meiste davon war – im Gegensatz zu seinem bei Suhrkamp bestens edierten literarischen Werk – bislang nicht zugänglich. Anderthalb Tage und Nächte bräuchte man, um alles anzuhören. Das macht natürlich kein Mensch, jedenfalls nicht am Stück.
„Müller mp3“ präsentiert einen Heiner Müller zum Zappen. Das ist nichts weniger als abwertend gemeint. Es ist ein Heiner Müller, den man beim Wäsche aufhängen mit Gewinn hören, den man sich einfach ins Wohnzimmer holen und ein Weilchen reden lassen kann, und man braucht nicht mal eine Zigarre, um sich ihm dabei nah zu fühlen. Weil es ein lebendiger, präsenter (oder zumindest lebendig und präsent wirkender) Redner ist, dem man hier begegnet – und eben kein ferner, papierner, längst toter Schreiber.
Belegexemplar-Schmuggler
Nun war die Erinnerung an Heiner Müller gerade in den östlichen Bezirken Berlins schon immer lebendiger als anderswo. Zwanzig Jahre lang, von 1959 bis 1979, wohnte er am Kissingenplatz 12. Das ist ganz in der Nähe, in Pankow. Auch als er später nach Lichtenberg zog, blieb er vielen und viele ihm verbunden, die hier in der Gegend lebten und arbeiteten. Der Lyriker Bert Papenfuß zum Beispiel, der heute die Kneipe „Rumbalotte continua“ in der Metzer Straße betreibt, wollte zwar nie zu dem „Pulk“ gehören, von dem Heiner Müller immer umgeben gewesen sei. “Dennoch sind wir uns an bestimmten Punkten nahe gekommen,“ so Papenfuß gegenüber den Prenzlauer Berg Nachrichten. „1985 erschien mein erster Gedichtband in Westberlin, Heiner Müller hat den großen Stapel Belegexemplare für mich nach Ostberlin geschmuggelt.“ Zwei Jahre darauf habe Müller bei einer Veranstaltung in der Akademie der Künste (Ost) auch die Publikation von Papenfuß‘ Texten in der Zeitschrift „Sinn und Form“ durchgesetzt.
Grund genug für Papenfuß, sich nun mit seiner „Kulturspelunke“ an der „Langen Heiner-Müller-Nacht“ zu beteiligen, mit der das Erscheinen der neuen Hörbuchedition am kommenden Samstag im „Kleinen Wasserspeicher“ gefeiert wird. Es lohnt sich aber sicher auch ohne persönliche Verbundenheiten, die Veranstaltung zu besuchen – schon allein, weil man sich bei dieser Gelegenheit einen kostenlosen Eindruck von dem mit 78 Euro nicht ganz billigen Hörbuch verschaffen kann. Vor allem aber wird man sich dank des gesprochenes Wortes der schönen Illusion hingeben können, Heiner Müller sei hier und jetzt leibhaftig im Raum anwesend. Das kann die beste Textedition nicht leisten.
„Der meint noch irgendwas ganz Schlimmes“
Von dem erhebenden Gefühl der Unmittelbarkeit, das sich beim Hören der Tondokumente schnell einstellt, braucht man sich aber den analytischen, wissenschaftlichen Blick auf sein Werk keineswegs eintrüben zu lassen. Den Interpretationshinweisen, die Müller bisweilen zu eigenen Werken gibt, braucht man ja nicht zu folgen; was andere über ihn sagen und sagten – Journalisten, Germanisten, Historiker, Freunde, Schauspieler, Theaterintendanten – bleibt genau so wahr. Aber statt immer nur beschrieben, gelesen, kommentiert, interpretiert, klassifiziert, eingeordnet, idolisiert oder verteufelt zu werden, darf Müller jetzt halt einfach mal selbst zu Wort kommen:
„Keiner glaubt, dass einfach das gemeint ist, was da steht. Alle denken, da ist noch was dahinter. Der meint noch irgendwas ganz Schlimmes, was er nicht direkt sagt. Und ich hab eigentlich immer das geschrieben, was ich meine. So weit ich das beurteilen kann. Das ist ja wieder eine andere Sache, das Verhältnis zwischen Intention und Text. Das ist für den Autor selbst auch nicht ganz durchschaubar.“
Der Text als Telefonbuch
Langsam und bedächtig spricht er meistens, mit vielen Auslassungen, Zäsuren, Pausen. Und bewusst leise. Als „Genuschel in Schlammfarben“ bezeichnete eine ungnädige Kritikerin 1989 einmal seine Vortragskunst. Doch er liest bewusst so, um seine Gesprächspartner zum Zuhören zu zwingen. Vor allem bei seinen eigenen Texten klingt das mitunter seltsam distanziert, fast als würde er sie zum ersten Mal lesen. „Mein Text ist ein Telefonbuch,“ schrieb er einmal, „und so muß er vorgetragen werden, dann versteht ihn jeder. Denn dann ist es eine Erfahrung, die man mit einem fremden Material macht. Erfahrungen machen besteht doch darin, daß man etwas nicht sofort auf den Begriff bringen kann. Daß man später beginnt, darüber nachzudenken.“
Was hätte Heiner Müller selbst wohl von einem solchen Audiobook gehalten? Es gibt Hörspiele von ihm, aber sonderlich medienversiert war er wohl nicht. Im DDR-Fernsehen habe es kaum Auftritte von ihm gegeben; die wenigsten wussten damals, wie er aussah, erzählt er dem Journalisten Frank Schirrmacher 1995 in einem Interview. Später war er dann zwar recht präsent in den Medien, dennoch konnte er nicht damit rechnen, dass alles, was er je vor einem Mikrofon sagte, irgendwann jedem zugänglich sein würde. „Was aber überliefert ist, kann jetzt jeder hören,“ schreibt sein Weggefährte B. K. Tragelehn im Booklet; „und vielleicht wird er es schwernehmen, und das wäre falsch. Diese Töne sind Bruchstücke lauten Denkens. Sie denken in diese Richtung und sie denken in jene, entgegengesetzte Richtung, und in noch eine und noch eine … Sie sind also immer lebendig, immer noch, nicht feststellend und nicht beharrend, sondern beweglich und bewegend.“
Kann also schon sein, dass er es schwer nimmt, der Heiner Müller, wenn ihn kommenden Samstag viele sprechen hören werden. Aber falls sich deswegen beim ein oder anderen Besucher ein – laut Tragelehn unnötiges – schlechtes Gewissen einstellen sollte, lässt es sich mit einem ordentlichen Schluck Whisky sicher ganz schnell betäuben.
Die lange Heiner-Müller-Nacht, am 14. Mai von 22 bis 6 Uhr im Kleinen Wasserspeicher, Diedenhofer Straße, Eintritt frei. In der nahe gelegenen Kneipe „Rumbalotte continua“ in der Metzer Straße 9 sind außerdem ab 1 Uhr zwei Müller-Filme von Christoph Rüter zu sehen: „Die Zeit ist aus den Fugen. Heiner Müller, die Hamletmaschine und der Mauerfall,“ (1990, 110 Minuten) sowie „Heiner Müller: Ich will nicht wissen, wer ich bin“ (2009, 60 Minuten). Ab 7 Uhr gibt es Frühstück.
Müller mp3, Tondokumente 1972-1995, herausgegeben von Kristin Schulz. Alexander Verlag 2011, 4 CDs, 196 Seiten, 78 Euro.