Wer in Prenzlauer Berg lebt, muss sich ständig von außen sagen lassen, wie er zu leben hat. Nur Protest – wie der gegen den Umbau der Kastanienallee – kann aus der Klischeefalle befreien.
Das „103“ an der Ecke Zionskirchstraße/Kastanienallee liegt in Mitte. Es gibt aber kaum einen anderen Ort, an dem Prenzlauer Berg, wie es geliebt und gehasst wird, noch so stilecht bei sich ist: Orange beleuchtete Designerbänke, dicke Hornbrillen, gepflegte iPhones und teures Strick-Secondhand im Übermaß. Eigentlich ist der Laden viel zu cool, um dort ein graswurzelhaftes „Pressefrühstück“ anzusetzen, wie es die Gegner der Gehwegumbauten in der Kastanienallee vor ein paar Wochen taten.
Die Initiative „Stoppt K21“, die gegen das Umpflügen der Kastanienallee, gegen Parkbuchten und Radstreifen kämpft, entschied sich trotzdem für diesen Ort. Vordergründig, weil Till Harter, Besitzer des „103“, einer der Sprecher der Initiative ist. Auf den zweiten Blick führt die Wahl der Location aber zu einer ganz anderen Frage: Was ist eigentlich mit Prenzlauer Berg los, wenn das Basiscamp der Latte-Macchiato-Liebhaber zum Austragungsort bezirkspolitischer Pressekonferenzen verkommt?
Denn politisch ist der Streit um die Kastanienallee auf jeden Fall. Das ist ihm in den vergangenen Monaten immer wieder abgesprochen worden – von Bezirkspolitikern, Fahrradprotagonisten, Anti-Schwaben-Aktivisten, Senatsbürokraten und Hauptstadtjournalisten. Genüsslich wird der Streit fehlinterpretiert, als bockiges Nostalgikertum in die Jahre gekommener Großstadtcowboys. Prominentestes Aushängeschild der Proteste ist der Gründer der Loveparade, „Herr Doktor Motte“, wie ihn der zuständige Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne) nennt.
Keine Zone der Gleichförmigkeit
Selbst unter Lokalpolitikern ist es zur Mode geworden, Bürgeranliegen allein deshalb zu verunglimpfen, weil sie in Prenz-lauer Berg spielen. Den Kastanienallee-Kämpfern schallt es entgegen: Ihr denkt doch nur an euren Bio-Ego-Zentrismus! Dabei geht es gar nicht um Bordsteinkanten. Die Protestierer fürchten, dass die Kastanienallee eine „Straße unter vielen“ wird. Insofern ist dieser Streit um eine Straße nicht zu verstehen ohne die lange Vorgeschichte an Ressentiments und Vorurteilen, die sich über Prenzlauer Berg ergießen. Die urbanen Legenden von Bionade-Biedermeier, Mutti-Spießertum und Kindern, die mit drei zum Yoga geschickt werden, bieten zwar keinen Neuigkeitswert. Sie bilden aber die Folie, vor der den Großstadtbewohnern Prenzlauer Bergs von außen gesagt wird, wie sie zu sein haben. Dagegen darf man sich wehren.
Das fällt mit einer Bezirkspolitik aus Pankow zusammen, die im Bezug auf Prenzlauer Berg kulturell den Anschluss verloren hat. Paradigmatisch dafür stehen die Grünen, die sich selbst als Meisterdeuter der Bevölkerung von Prenzlauer Berg verstehen. Doch ihre Selbstinterpretation als Staatspartei bleibt auch auf dem grünen Hügel nicht unwidersprochen. Der Plan für die Kastanienallee sei alternativlos, es gebe Sachzwänge, heißt es aus der Partei. Das kam schlecht an. Es zeigt, dass auch die Grünen etwas falsch machen, wenn sie Prenzlauer Berg als Zone der Gleichförmigkeit begreifen, in der ihnen automatisch Gefolgschaft geleistet wird.
Die Debatten um Prenzlauer Berg werden dominiert von verbissen vorgetragenen Klischees – und von einem verklärten Blick auf die Vergangenheit. Ost-Alternative der 80er Jahre und BRD-Wohlstandskinder der 90er Jahre eint die eine gemeinsame Klage: Immer geht irgendwas verloren. Und jeder scheint darüber lamentieren zu wollen. Früher war alles besser – verdammt wird die falsche Mischung, der mangelnde Zusammenhalt, die Tatsache, dass jeder anders sein will und doch so ähnlich ist. Dabei ist dieser Erkenntnisgewinn nicht neu. Dass bei der Stadterneuerung der 90er Jahre, die ein ganzes Viertel in durchsanierter Künstlichkeit erstrahlen ließ, soziale Fehler gemacht wurden, bestreiten inzwischen nicht einmal mehr deren Erfinder. Ändern lässt es sich im Nachhinein nicht mehr.
Wer trotz aller Klischees gerne in Prenzlauer Berg lebt, der sollte sich jetzt emanzipieren: von den ewig gleichen Vorurteilen und von einer Lokalbürokratie, die mit ihren Bürgern nichts anzufangen weiß. Denn die folgenden Fragen dulden keinen Aufschub: Muss auch noch die letzte Freifläche mit Beton zugepflastert werden? Wie wird das Versiegen kultureller Vielfalt gestoppt? Was muss getan werden, damit das Viertel sozial nicht vollständig kippt? Es ist an der Zeit, miteinander zu reden, nicht übereinander: Wird es auf dem Gehweg abends zu laut, hilft auch ein Gespräch – und nicht der Ruf nach dem Amt.
Wenn in Prenzlauer Berg wirklich ein neues Bürgertum entstanden ist, wie man immer liest, dann ist die Kastanienallee nur der Anfang. Dann werden noch weitere Initiativen entstehen, die Klischees über Prenzlauer Berg entkräften und dem Stadtteil eine Identität geben, die die Vergangenheit nicht vergisst und trotzdem etwas Neues schafft. Vielleicht heißt es dann: Aus Biedersinn wurde Bürgersinn.
Lesen Sie mehr dazu in unserem Dossier zur Kastanienallee.