„Irgendwann kommt immer der Hunger“

von Kristina Auer 7. Januar 2017

JAHRESRÜCKBLICK 2016: Schinken, Käse, Salami oder Speck? Seit 19 Jahren zieht Martin Lambl durch die Kneipen in Prenzlauer Berg und verkauft Baguettes an hungrige Nachtschwärmer.

WIEDERHOLUNG vom 9. Oktober 2016:

Wer am Wochenende ab und zu durch die Prenzlauer Berger Bars zieht, ist ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon einmal begegnet: Martin Lambl geht seit 19 Jahren mit seinem Korb voll belegter Baguettes auf Tour durch den Kiez. Wenn es sonst nirgends mehr etwas zu essen gibt, ist er die einzige Hoffnung jedes bierseligen Kneipengastes, der nach Mitternacht plötzlich ein Loch im Magen verspürt. Man könnte ihn eine Institution des Prenzlauer Berger Nachtlebens nennen.

Die Idee für das Geschäft mit den Baguettes hatte der 44-jährige Tscheche schon kurz nach seiner Ankunft in Berlin im Jahr 1996. „Es gab damals eine Firma, die in Mitte, Schöneberg und Kreuzberg eine Tour mit Baguettes gemacht und Verkäufer gesucht hat. Dort habe ich eine Weile gearbeitet. Dann habe ich mir gedacht, ich wohne in Prenzlauer Berg, hier macht das niemand, dann mache ich das selber“, sagt Lambl. Seit er von Prag nach Berlin zog, hat er immer in Prenzlauer Berg gewohnt, eher aus Zufall als mit Absicht. Insgesamt fünfmal ist er innerhalb des Stadtteils umgezogen, hat viel zur Zwischenmiete und Untermiete gewohnt. Seit zwei Jahren wohnt er in seiner ersten eigenen Wohnung an der Prenzlauer Allee. Unter der Woche lebt Martin Lambl allerdings immernoch meistens in Prag und geht dort seinem zweiten Job nach: Er verkauft deutsche Sportkleidung und manchmal Autoteile im Internet an tschechische Kunden.

 

Taktisch langgezogenes S

 

Freitags, samstags und gelegentlich sonntags schmiert Martin Lambl am heimischen Küchentisch Baguettes und macht sich anschließend auf nächtliche Tour in Prenzlauer Berg. 90 Baguettes verkauft er pro Abend, sonntags die Hälfte. Etwa drei Stunden dauert die Vorbereitung und es lässt sich nicht abstreiten, dass diese mit einer gewissen Leidenschaft ausgeübt wird: Vier bis fünf verschiedene Beläge gibt es pro Abend, meistens Käse, Schinken, Salami, manchmal Blauschimmelkäse oder Speck. Auf jedem Exemplar darf außerdem ein Blatt Eisbergsalat und jeweils eine Scheibe Tomate, Gurke und Paprika nicht fehlen. „Wenn ich freitags von Prag zurück nach Berlin fahre, kaufe ich dort früh morgens die Baguettes bei einem guten, traditionellen Bäcker, der alles noch selbst bäckt“, sagt Lambl nicht ohne Stolz.

Baguettemanufaktur am heimischen Küchentisch.                                (Foto: Kristina Auer)

 

Die Arbeit mache ihm meistens Spaß, sagt Lambl. „Die Leute sind eigentlich immer nett, manchmal treffe ich auch sehr lustige Menschen, das amüsiert mich. Am liebsten würde ich natürlich gar nicht arbeiten, aber Baguettes verkaufen ist auf jeden Fall viel besser als zum Beispiel auf der Baustelle arbeiten.“ Im Winter ist Lambl oft länger verreist, dann fährt er zum Skifahren nach Österreich. Dass die Berge seine Leidenschaft sind, kann man sich bei seinem Anblick sehr gut vorstellen: Mit seiner hünenhaften Statur, dem grauen Pferdeschwanz und dem Rauschebart könnte man Lambl auch zutrauen, ein paar Fünftausender bezwungen zu haben.

Mit den fertigen Baguettes belädt Martin Lambl sein Auto und beginnt meistens zwischen 21 und 22 Uhr seine Kneipentour durch Prenzlauer Berg. Die Runde beginnt traditionell in der Schliemannstraße im tschechischen Laden, denn der schließt als Erster. Den Inhaber Ludek kennt Lambl seit vielen Jahren. Wenn Lambl den Raum betritt und mit tiefer Stimme und taktisch langgezogenem S am Ende seine „Baguettesssss“ anbietet, zwingt er auch jeden noch so angesäuselten Gast zum Aufschauen.

 

Überall, wo Kiez ist

 

Von der Schliemannstraße aus führt die Route in die Raumerstraße, zur Speiche, wo es bei Livemusik an den Wochenenden meist zum Bersten voll ist, und danach ins Crossroads an der Ecke zur Pappelallee. „Hier kenne ich die Besitzer und das Personal, die sind alle sehr nett und kaufen auch oft Baguettes“, sagt Lambl und lacht. Die Tour führt weiter in die Stargarder Straße, dann die Schönhauser Allee hinunter bis zur Kastanienallee, in die Oderberger Straße und bis auf die Torstraße. Irgendwo dazwischen baut Lambl den Winskiez ein. „Ich gehe überallhin, wo Kiez ist und es Kneipen gibt,“ sagt Lambl. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, wo man am besten verkaufen kann. Inzwischen habe ich eine feste Route, da kennen mich die Leute und wissen, dass ich komme.“

Wenn Lambl Glück hat, trifft er auf eine Gruppe britische Touristen, die ihm einen ganzen Korb Baguettes auf einmal abkaufen, hat bald alles verkauft und kann gegen 2 Uhr nach Hause gehen. Dann trinkt er ein Feierabendbier in einer seiner Lieblingskneipen, dem Nemo in der Oderberger Straße oder dem Lokal, genannt Holländer, in der Knaackstraße. An schlechten Tagen verschenkt Lambl um 6 Uhr morgens die letzten Baguettes an die Gäste im Café Burger in der Torstraße, das am längsten geöffnet hat. Die Arbeit habe sich über die Jahre nicht groß verändert, findet Lambl. Es gebe zwar weniger Clubs, aber nach wie vor genug Kneipen. „Die Leute sind immer gut drauf, getrunken wird immer, und irgendwann kommt immer der Hunger“, sagt Lambl und lacht. Überhaupt strahlt er die Gelassenheit eines Überlebenskünstlers aus, der sich nicht lange mit Unwesentlichem aufhält und sich stattdessen lieber auf die Dinge konzentriert, die ihm Spaß machen. Zum Beispiel tschechisches Essen: „Morgen gibt  es besonders gute Baguettes mit Schweinebauch. Den backe ich vier Stunden im Ofen, auf die Baguettes kommt er dann zusammen mit Senf, Essigurken und Zwiebeln.“ Eine Veränderung gibt es dann doch im Baguettegeschäft: „Für die vielen Vegetarier jetzt ist das tschechische Essen natürlich nicht so gut, da ist immer viel Fleisch dabei. Aber die essen dann eben Baguettes mit Käse.“

 

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