UPDATE: Wohnen für unter sechs Euro kalt? In der Sredzkistraße ist ein genossenschaftliches Gemeinschaftswohnprojekt entstanden.
UPDATE vom 13.09.2017:
Ein knappes Jahr nach dem Richtfest ist es nun soweit: Am Donnerstag feiert das Mehrgenerationenhaus in der Sredzkistraße 44 nach zweijähriger Bauzeit seine Eröffnung, unter anderem im Beisein von Bezirksbürgermeister Sören Benn (Linke). „Ich bin ganz euphorisch“, sagt Daniela Herr, die vor drei Wochen nun in ihr altes Haus zurückziehen konnte. Neben ihr leben nun fünf weitere Altmieter sowie fünf Neumieter in den neu entstandenen elf barrierefreien Wohnungen. „Das war gleich ein geschäftiges Miteinander, überall werkelte es. Wir haben ja vorher schon 20 Jahre zusammen hier gewohnt.“ Auch die fünf neuen Parteien hätten sich gleich gut integriert, sagt Herr. Unter ihnen eine 88-Jährige, was Herr als „sehr schön für den Prenzlauer Berg“ empfindet, in dem es an alten Menschen mittlerweile mangele. Außerdem gehören zwei Kinder und ein Rollstuhlfahrer zur Hausgemeinschaft, die dank Genossenschaft nur 5,50 bis 6,50 Euro pro Quadratmeter zahlt (die Neumieter drei Euro mehr). Im Erdgeschoss informiert ein Ausstellungszentrum mit Musterwohnung zu Möglichkeiten des altersgerechten Wohnens.
Eröfffnungsfeier am 14.06.2017, 11 Uhr, Sredzkistraße 44
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ARTIKEL vom 6.10. 2016:
Fauler Zahn – schonmal gehört? Wenn nicht, kein Wunder. Es gibt sie in unseren Breitengraden ja kaum noch, die unsanierten, heruntergekommenen Altbauten, deren charmanter Farbton so gut zur aktuellen Wetterlage passt. Und eine der letzten nicht in mediterranem palazzo-gelb gestrichenen Fassaden in der Sredzkistraße 44 versteckt sich nun auch seit November vergangenen Jahres unter einem Baugerüst. Doch was darunter stattfindet, lässt hoffen. „Willkommen im Prenzlauer Berg, der ja eher andere Schlagzeilen macht als gemeinschaftliche Wohnprojekte“ begrüßt Peter Weber denn auch treffend die Gäste des Baustellenfestes.
Von der Gewobag zur Genossenschaft
Weber ist im Vorstand der Mietergenossenschaft SelbstBau und für die Bewohner des Hauses quasi der rettende Engel. Denn es hätte alles auch ganz anders kommen können. Bis 2014 gehörte das Haus der Gewobag und eine Sanierung, das war auch den Bewohnern klar, war unumgänglich. „Es wurde zunehmend schwieriger, hier zu wohnen“, erzählt Daniela Herr, die seit 1997 im Haus lebt. „Das Dach war kaputt, es tropfte bei Regen in die Wohnungen. Wir hatten alle noch Kohleöfen und Außentoiletten.“ Und obwohl das Gebäude in der Sredzkistraße als eines von acht Häusern unter das 2012 beschlossene Mietenstopp-Abkommen fiel, demzufolge die Mieten nach einer Modernisierung nur moderat steigen sollten, folgte den Sanierungsankündigungen ein zweijähriger Streit zwischen Mietern und Gewobag. „Vorgesehen waren unter anderem der Abriss des Treppenhauses im Hinterhaus und Wohnungszusammenlegungen“, erklärt Daniela Herr den Grund für die Auseinandersetzung. „Da war klar: Für die Altmieter wird danach kein Platz mehr sein.“
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Nach zwei für beide Seiten zermürbenden Jahren war für die Gewobag das Maß voll, sie wollte das Haus mit den widerspenstigen Mietern abstoßen. Herr und ihre Hausgenossen bekamen es mit der Angst und suchten nach Wegen, ihr Haus dem freien Markt zu entziehen. Sie nahmen Kontakt zu verschiedenen Hausgenossenschaften auf und landeten bei der SelbstBau, ihrerseits bereits durch die Gewobag kontaktiert. Denn auch das Wohnungsunternehmen suchte nach einer verträglichen Lösung für die Mieter, was diese ihr bis heute hoch anrechnen. Und da trat Peter Weber auf den Plan. „Was uns sofort überzeugt hat, war, dass Peter zuerst das Gespräch mit uns Mietern gesucht hat, bevor er mit der Gewobag verhandelte“, so Herr. Das Ergebnis: Ein Erbpachtvertrag über 99 Jahre.
Der Zimmermann schlägt traditionell den letzten Nagel in den Dachstuhl
(Foto: Constanze Nauhaus)
Die Mieter: Künstler, Journalisten, Selbständige
Nun steht Daniela Herr auf ihrer zukünftigen Dachterrasse und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen, im Juni nächsten Jahres wird sie einziehen, so der Plan. „Ich kann das noch gar nicht glauben“, sagt sie. „Wir wären sonst alle aus dem Bezirk raus.“ Sie, die Kunsthistorikerin mit einem befristeten Vertrag, und ihre Nachbarn – Künstler, Journalisten, Selbständige – hätten sich die Mieten auf Dauer nicht leisten können. Zwar wäre durch das geplante Mietenstopp-Abkommen selbst nach einer Sanierung mit der Gewobag der Quadratmeterpreis unter sechs Euro geblieben, allerdings mit Mieterhöhungen im Drei-Jahres-Abstand. Jetzt haben die Bewohner, die ehemals für drei Euro pro kalten Quadratmeter hier wohnten, eine Mietlaufzeit von fünf bis zehn Jahren, bei 5,50 Euro pro Quadratmeter beziehungsweise 6,50 im Dachgeschoss. Für die drei Neuvermietungen fallen drei Euro mehr an. Hinzu kommt eine Genossenschaftseinlage von 150-250 Euro pro Quadratmeter.
Dass alle acht Bewohner, die zum Zeitpunkt der Umwandlung in eine Genossenschaft hier wohnten, im nächsten Jahr wieder zurückziehen können, sieht Peter Weber als Erfolg. „Ich trau dem Staat nicht so richtig zu, das Wohnungsproblem lösen zu können“, so Weber in seiner Rede, im Publikum kurzes Auflachen von Ralf Kleindiek, Staatssekretärs des Bundesfamilienministeriums. Dieses nämlich finanziert die Sanierung im Rahmen des Programms „Zuhause im Alter – Soziales Wohnen“ kräftig mit. Im Gegenzug wird im Erdgeschoss ein entsprechendes Beratungs- und Informationszentrum mit Musterwohnung entstehen.
„Ich habe noch ein bisschen Probleme damit, uns als Beispiel für ein Mehrgenerationenhaus anzubringen“, so Daniela Herr auf dem Podium zögerlich. „Noch haben wir keine wirklich alten Leute hier.“ Doch zwei Kinder werden einziehen, zwei Rollstuhlfahrer und nicht zuletzt wird der Zahn der Zeit das Seine tun. Alle Wohnungen sind barrierefrei konzipiert, ausziehen muss also wegen dereinstiger Gebrechlichkeit keiner mehr. Genossenschaftliches Wohnen als das ultimative Berliner Wohnmodell, da sind sich alle Redner einig. Peter Weber: „Wir werden das Berliner Wohnungsproblem nicht lösen können. Aber wir können eine Beispiel sein für andere Mieter, unkonventionelle Wege zu gehen, um ihre Wohnsituation zu sichern.“
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