JAHRESRÜCKBLICK 2016: Die Hauptstadt des größten EU-Staats verzichtet auf eine funktionierende Verwaltung. Geht’s noch? Ein Erfahrungsbericht und Plädoyer für den Wahlkampf.
WIEDERHOLUNG vom 13. Juni 2016:
Momente der Klarheit erreicht man in Berlin, wenn man mal nach draußen telefoniert. Zum Beispiel mit einem offenbar im Rheinländischen angesiedelten Call-Center der Familienkasse. Von dieser nämlich liegt mir seit Wochen ein verzweifelter Brief vor, ob ich denn nicht mal gedenke, die für das neue Kind gültige Einkommenssteuer-Identifikationsnummer mitzuteilen, weil sonst der Antrag auf Kindergeld nicht positiv beschieden werden könne. Ja, sage ich der kompetenten Dame also am Telefon, das würde ich gerne, danke der Nachfrage. Und dann, wie so oft, reicht dieser eine Satz aus, um alles zu erklären: Ich rufe aus Berlin an. „Ja, stimmt, bei Ihnen dauert das ja alles etwas länger“, antwortet die Dame wissend. Kann man so sagen.
Der Dialog wird an dieser Stelle interessant, weil es offenbar auf beiden Seiten Redebedarf gibt. Dazu ist zu sagen, dass für die Vergabe der Einkommenssteuer-ID nicht Berlin, sondern eine Bundesbehörde zuständig ist. Diese aber wartet auf die Meldungen über aktuelle Geburten von den Berliner Einwohnermeldeämter. Aus einem Anruf bei eben jener Bundesbehörde, das sich später zu einem spontanen Kurzinterview entwickelt, weiß ich, dass man dort Berlin schon abgeschrieben hat. Man bekomme die Meldungen aus dem gesamten Bundesgebiet in aller Regel binnen weniger Tage, nur in Berlin, ach, da dauere es sechs Wochen, gerne auch drei Monate, sagt man mir dort. Der Brief mir der ID gehe dann aber sofort an die Eltern raus. Auf diesen Brief warte ich jetzt. Bei der Familienkasse, das sagt mir wiederum die Frau aus dem Call-Center dort, habe man im internen Verwaltungssystem hinter dem Namen meines Kindes übrigens einen Zeitpunkt für eine erwartbare Antwort eingetragen. Huch, sagte die Frau, das habe sie nun auch noch nicht gehabt. 2017 stehe da.
Berlin wird der Hauptstadt der DDR ähnlicher
Neu begründete Elternschaften sind eben Teile jener Momente, in dem man dem Berliner Wahnsinn vollkommen ausgeliefert ist. Noch ein Erlebnis, damals, bei Kind eins: Sehr umständlich hat man Vaterschaft und Sorgerecht eintragen lassen, nur um dann ein halbes Jahr später festzustellen, dass beim Einwohnermeldeamt niemals und damit ganz anders als versprochen dieses Vaterschaftsverhältnis vermerkt wurde. Sprich, in dem schlimmsten aller Fälle hätte ich bei der Behörde niemals in irgendeinem Verwandtschaftsverhältnis zu meinem Kind gestanden, würde ich nicht dazu neigen, bei Telefonaten mit Verwaltungsmitarbeitern ein bisschen ins Plaudern zu kommen. Von Terminen bei Bürgerämtern kenne ich verzweifelte Eltern, die einen Pass für ihr Kind brauchen, das offenbar schon am Flughafen steht und ein Jahr als Au-Pair in die USA reisen möchte. Reisen kurz nach der Geburt kann man beispielsweise auch nur dann antreten, wenn man mit dem Risiko leben kann, dass man sein Kind bei spontanen Kontrollen am Brenner nicht ausweisen kann und dann auf das Beste hoffen muss. Und das sind nur die Luxusprobleme – man kann ja auch einfach zuhause bleiben. Womit das vereinte Berlin der Hauptstadt der DDR wieder ein bisschen ähnlicher würde, manchem hier mag das ja gefallen.
Die Steuer-ID wird mich irgendwann erreichen, für die Beantragung zweier Reisepässe habe ich mit viel Geduld beim elektronischen Anmeldewesen einen Termin bekommen – der Ärger ist also bald überstanden. Nur frage ich mich, wie das all jene Menschen ertragen können, die in ihrem täglichen Leben auf staatliche Unterstützung und damit auf eine funktionierende kommunale Verwaltung angewiesen sind? Von ihnen soll es in Berlin einige geben. Arbeitslose, Menschen mit Behinderung, Asylbewerber, Alleinerziehende oder schlicht Eltern, die das Elterngeld wirklich brauchen. Wenn jede amtliche Interaktion dieses Ausmaß an Hilfslosigkeit, wie ich es nur in Ansätzen erleben konnte, produziert, dann kann man nur von einer gescheiterten Verwaltung sprechen. Und, wohlgemerkt, die Ärmsten bei diesem Spiel sind die Verwaltungsmitarbeiter, die offenbar von ihrem Arbeitgeber kaputtgespielt werden sollen. Warum aber scheint man davon außerhalb Berlins mehr Notiz zu nehmen als in der Stadt selbst?
Kein Wahlversprechen funktioniert ohne Behörden, die es umsetzen
Oder wie sonst ist zu erklären, dass in den Programmen für die anstehenden Wahlen zu Abgeordnetenhaus und Bezirksparlamenten das Thema Verwaltung entweder eine nachgeordnete oder gleich gar keine Rolle spielt? Es gibt anscheinend Zeiten, in denen sind die Themen, um die es gehen muss, so offensichtlich, dass man sie einfach übersieht. Bill Clinton hat dieses Phänomen in seinem ersten Wahlkampf in einem Satz zusammengefasst: „It’s the economy, stupid“. Angewandt auf den Berliner Wahlkampf kann man nur sagen, dass es in Berlin zwar an vielen Stellen brennt, am Ende hängt es aber immer wieder an der Verwaltung. Verdammt nochmal!
Stattdessen liest man in den Programmen beispielsweise mal wieder, oh, wie müde man da wird, Ankündigungen, Wohnraum zu schaffen. Und denkt an die Berichte von Freunden, die ganze Häuser bauen oder nur Dachgeschosse erneuern wollen, und sich dafür in ermüdende Kämpfe mit Behörden begeben müssen. Die es mit Ämtern zu tun haben, die gerade noch so funktionsfähig sind, dass sie nur noch auf Verwaltungsvorschriften verweisen können. Oder man denkt an den Versuch der Bezirke, die illegale Nutzung von Wohnraum als Ferienwohnung zu unterbinden. Zwei Mitarbeiter pro Bezirk, wie süß! Jedes Wahlversprechen ist ein Witz, wenn ein Land nicht garantieren kann, diese dann später auch qua Verwaltung umzusetzen. Dass sich in Sizilien einst der Müll auf den Straßen stapelte, lag ja nicht etwa am Mangel an Müllmännern. Sondern an einer kollabierenden Verwaltung.
Hauptsache billig
Und sage niemand, der Sizilien-Vergleich tue Berlin unrecht. Immerhin ist man hier schon so weit, dass man froh ist, wenn Grundschulkinder beim Unterricht nicht drauf gehen. Die Bildungseinrichtungen der Stadt kollabieren, aber immerhin müssen Eltern in Berlin demnächst keine Kita-Gebühren mehr zahlen. Denn eines, das soll man Berlins Politik und Verwaltung nun wirklich nicht vorwerfen können: Dass es nicht immer noch ein bisschen billiger geht. Wo man am Ende sparen kann, ohne dass einer schreit, das wissen wir ja inzwischen.
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Zur Kompaktübersicht der Wahlprogramme.
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