Die Schriftstellerin lebt in Prenzlauer Berg. In ihrem neuen Roman „Hausers Zimmer“ aber entführt sie uns in eine entlegene, untergegangene Welt: Das alte West-Berlin.
Sie hätte doch auch über das Nordische Viertel schreiben können. Da wohnt sie schließlich. Oder über den Mauerpark, die Schmelinghalle. Und bei Konnopke ist es doch auch ganz schön.
Aber nein, der Ku‘Damm musste es sein. Die Gedächtniskirche, das ICC, der Funkturm und die Schaperstraße. Tanja Dückers hat einen Roman über die vielleicht altmodischsten Gegenden dieser Stadt geschrieben. Zehn Jahre hat sie an „Hausers Zimmer“ gearbeitet. Doch anstatt darin ihre heutige Nachbarschaft in Prenzlauer Berg zu verewigen, porträtiert sie Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg. Nicht das gegenwärtige Leben dort, „Hausers Zimmer“ ist ein literarisches Gesellschaftsbild des alten West-Berlin im Jahre 1982.
Vordergründig geht es um die Ich-Erzählerin Julika. Die ist damals 14 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in einem der für West-Berlin typischen, linksbürgerlichen Akademikerhaushalte. Offensichtlich hat sie eine latente voyeuristische Veranlagung. Von ihrem Fenster aus hat sie nämlich eine prächtige Aussicht in das Zimmer des Motorradockers Peter Hauser. In den ist sie ein wenig verliebt. Und deshalb beobachtet sie ihn gern dabei, wie er nackt auf seinem Bett unter einer schrillen Hawaii-Fototapete liegt und sich die Fußnägel schneidet.
Der eigentliche Protagonist des Romans aber ist fraglos die Stadt selbst – jenes spätestens mit der Wende untergegangene West-Berlin, dessen versunkene Schätze Dückers mit geradezu archäologischer Präzision freilegt. Die Fasanenstraße etwa: Damals ist sie noch „eine dunkle Straße, in der es so gut wie keine Geschäfte gab,“ auf den Hinterhöfen der umgebenden Mietshäuser rosten aus Schrott zusammengefügte Kunstwerke vor sich hin.
Lebenskünstler, Aussteiger, Wehrdienstverweigerer
Nun enthält „Hausers Zimmer“ zwar eine Unmenge deskriptiver Passagen. Trotzdem ist die Stadt nicht nur in topografischer Hinsicht präsent. Dückers beschreibt das alte West-Berlin als buntes soziales Biotop, in dem sich Lebenskünstler, Aussteiger, Wehrdienstverweigerer, Obdachlose, linke Akademiker und sonstige experimentierfreudige Angehörige der 68er Generation tummeln. An der Ecke Bleibtreustraße begegnet man noch diesem „bestimmten Typ von Frauen mit nach Elnett riechendem, entweder albinohaft weißblond oder blauschwarz gefärbtem Haar und dick aufgetragenem rosafarbenem Lippenstift.“ Auch diese „Ku‘dammladys“ dürften heute ausgestorben sein.
Die allgegenwärtigste Spezies in diesem Buch aber sind womöglich die Ratten: Ständig hört man sie durch die Kanalisation huschen oder die Wände großzügiger Altbauwohnungen benagen. Morbid, vielleicht sogar dem Untergang geweiht wirkt dieses angeknabberte Berlin; man ahnt, welche politische Düsternis über dieser Zeit lag, und wie zukunftsunsicher man sich als Jugendlicher hier gefühlt haben muss. Das Szenario einer militärischen Konfrontation stellt hier, im Zentrum einer bipolaren Weltordnung, bekanntlich durchaus eine reelle Bedrohung dar. Misstrauisch verfolgen deshalb auch Julika und ihre Familie die amerikanisch-sowjetische Rüstungspolitik jener Jahre. Vor allem den Eltern bereitet auch der politische Wechsel von SPD zu CDU Sorgen; für sie, die 68er, ist dieses Jahr 1982 ohnehin eine Zeit der Verluste von Vorbildern und Idolen. Peter Weiss stirbt im Mai, ein paar Wochen später Alexander Mitscherlich. Und dann wird auch noch Helmut Kohl Bundeskanzler.
Der Bahnhof Zoo – eine Institution, kein Regionalbahnhof
Man spürt in diesem stellenweise etwas zu detailreichen, grundsätzlich aber kurzweilig geschriebenen Buch auf jeder Seite, wie genau Dückers dieses historisch gewordene Milieu und die damalige West-Berliner Atmosphäre kennt. Am Schauplatz ihres Romans, in der Gegend um die Gedächtniskirche, wuchs schließlich auch sie selbst in den 80er Jahren auf. Eine Autobiografie ist „Hausers Zimmer“ deshalb noch lange nicht. Eher ein Abgesang: Auf eine Stadt, in der der Bahnhof Zoo noch eine Institution war und kein Regionalbahnhof. Und deren politisch-geografische Verfasstheit selbst einer damals Vierzehnjährigen manche schlichte, aber denkwürdige Einsicht abrang: „Wir, auch in West-Berlin, waren im Osten.“
Seien wir also nicht beleidigt. Auch wenn „Hausers Zimmer“ aus lokalpatriotischer Sicht streng genommen ein Totalausfall ist – lesenswert ist dieser Adoleszenzroman aus dem Zentrum des Kalten Krieges trotzdem allemal. Außerdem hat sich Dückers ja in anderen Werken durchaus auch schon mit dem (aus unserer Sicht) „richtigen“ Kiez auseinandergesetzt (z. B. in ihrem Roman „Spielzone“, Aufbau Verlag, Berlin 1999). Und wenn wir jetzt nicht meckern, haben wir vielleicht noch eine Chance – auf einen Platz im Spätwerk.
Tanja Dückers ist für das Literaturprojekt www.landvermesser.tv zu ausgewählten Orten ihres Buches spaziert. Im Video, das rechts in der Spalte angezeigt ist, spricht sie über und zitiert aus Hausers Zimmer.
Tanja Dückers: Hausers Zimmer. Schöffling, 496 Seiten, 24,95 Euro.
Die Autorin präsentiert ihren Roman am 8. März um 20 Uhr im HBC, Karl-Liebknecht-Straße 9; die Literaturkritikerin Ursula März wird die Veranstaltung des Literarischen Colloquium Berlin moderieren. Eintritt: 6/4 Euro.