Da war es! Damals, in den 1980er-Jahren. Da trafen sich unangepasste Künstler in Prenzlauer Berger Hinterhöfen und Küchen und schufen sich eine Mini-Insel. Eine DDR-Doku mal ganz anders.
Fangen wir mal hinten an. Was bleibt? Sätze wie: „Prenzlauer Berg war so etwas wie ein Atoll. (Ich will es nicht Insel nennen, das ist ein zu großer Begriff.“) Und: „Das Thema war, dem Staat demokratische Freiräume abzutrotzen.“ Außerdem dieses Bild: historische Filmaufnahmen auf einer grünen Teekanne.
Der Journalist Wolf-Christian Ulrich war im Prenzlauer Berg von heute unterwegs, auf Spurensuche in den 1980er-Jahren. Als sich Literaten, Punks und die künstlerische Bohème in Küchen und Hinterhöfen trafen, um ihr Andersdenken jenseits der DDR-Doktrin zu leben. Auf illegalen Lesungen mit Nudelsalat und Pop-up-Konzerten in der Schliemannstraße. Vornehmlich heimliche Treffen, tatsächlich aber mit Stasi-Teilnahme.
Ulrich hat für die ZDF-Info-Dokumentation „Geschichte treffen. Prenzlauer Berg – Ost-Berlin auf wild“ sechs Menschen getroffen, die in den Achtzigern dabei waren. Sei es fotografierend, lesend, organisierend oder berichtend (Buch und Regie von Thomas Vogel):
Hauswald, Maaß, Papenfuß und wie sie alle heißen
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Sie alle eint, dass sie noch immer unangepasst wirken und mit einer großen emotionalen Bindung zum „Atoll Prenzlauer Berg“. Sie, das sind wohl für Prenzlauer Berg-Kenner keine Unbekannten, der Fotograf Harald Hauswald, der Literat Ekkehard Maaß, der damalige Punk Henryk Gericke, die Hirschhof-Anführerin Astrid Mosch, der Lyriker Bert Papenfuß und der damalige DDR-Korrespondent für das ZDF Holger Kulick.
Das erklärte Ziel der filmischen Dokumentation lautet: Das besondere Lebensgefühl der Augenzeugen festhalten „bevor ihre Geschichten hinter den renovierten Häuserfassen in Vergessenheit geraten“ (und da fällt auch einmal das L.M.-Unwort, das anscheinend jede Doku über Prenzlauer Berg beinhalten muss). Und trotz des Einwurfs in Klammern: Das ist definitiv gelungen.
Unbefangene Gespräche mit Nasenschnäuzer
Ich selbst bin ein Berliner Kind. Aber geboren in den 80er-Jahren und aufgewachsen in West-Berlin. Wenig ist mir so nah und doch so fremd wie die DDR und das Prenzlauer Berger Leben jenseits des „Mainstreams“ von SED- und FDJ-Rufen. Besonders weil – so macht es den Anschein – diese Zeit oft für jene, die sie miterlebten, ein persönliches Heiligtum darstellt.
Reporter Ulrich schafft es, dieses Sich-Ausgegrenzt-Fühlen aufzubrechen. Er unterhält sich über Boney-M-Bildchen befestigt mit Sicherheitsnadeln, farbige Fotografien, die der DDR-Regierung schwarz-weiß vorkamen und über Kaffee für Stasi-Mitarbeiter, die auf der Straße rumlungerten. Und er schlägt auch den Bogen zum Unmenschen in der damaligen Künstlerszene, dem später enttarnten Spitzel Sascha Anderson. Wenn sich jemand während des Interviews die Nase schnäuzt und dabei weitererzählt: Das ist eine unbefangene Gesprächsatmosphäre.
Historische Filmausschnitte auf Treppe und Kanne
Spannend auch, wie unterschiedlich die Ereignisse wahrgenommen werden. Stichwort Ausreisepartys. Für den einen waren das „eigentlich Begräbnisse“. Für den anderen ein Partygrund: „Wir haben gerne gefeiert und wenn es Abschied war.“
Ein kleiner Schatz sind die Zeitdokumente. Sie sind besonders ästhetisch in Szene gesetzt. Die Fotos von damals – zerkratzt und teilweise unscharf – bekommen eine 3D-Anmutung. Historische Filmausschnitte projizieren die Filmemacher auf eine steinerne Kirchentreppe oder auf eine Teekanne auf dem Tisch. Das ist nicht nur schön anzusehen, sondern auch die Geschichte im Jetzt.
Zum Schluss ein Blick in alle Gesichter. Auf wache, mutige Menschen. Und die Frage: Wie viel Romantisierung steckt in den Erinnerungen? „Keine Sehnsucht, aber schön, dabei gewesen zu sein.“
Das sind 45 wirklich künstlerische und Blick öffnende Ach-da?-Minuten.
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