„Läuft bei Dir?“

von Susanne Grautmann 1. Dezember 2015

Heute wechselt der Späti an der Raumerstraße 6 den Besitzer. Damit verliert der Helmholtzkiez nach über sieben Jahren auch seinen best gelaunten Sozialarbeiter.

Die ganze Straße hatte er eingeladen. An jeder einzelnen Haustür klebte der Flyer für seine Abschiedsparty. Am Samstag hat Tolga Aksakal seinen Ausstand im Platzhaus am Helmi gefeiert, Bier und Glühwein gab es umsonst. Nach über sieben Jahren verlässt er den Kiez, weil sein Chef den Späti an der Raumerstraße 6 verkauft hat. 

So richtig kann sich das noch keiner im Kiez vorstellen: An der Ecke Raumerstraße / Lychenerstraße vorbeilaufen – und kein Spruch von Tolga? Kein „Hallo, ihr zwei besonders Hübschen“, kein „Läuft bei Dir“? Tolga kennt hier jeden, und jeder kennt ihn. Leander spricht aus, was viele denken: „Du gehörst hier hin, Mann! Ich komm echt noch nicht drauf klar, dass du weggehst.“ Leander ist 16 Jahre alt. Tolga kennt er, seit er acht ist. 

 

Tolga war eine Bank

 

Tolga war einfach immer da, zum Schluss zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Nicht so schlimm, sagt er, er liebt seinen Job. Süßigkeiten verkaufen, Bier und Kippen, klar, das hat er auch gemacht. Aber vor allem war Tolga eine Bank. Immer gut gelaunt, immer auf Sendung. Für die Kinder gab es eine Hand voll Weingummi, für die Hunde Leckerli hinterm Tresen. Salami für die robusten, Trockenfutter für die sensiblen. „Manche Hunde haben ja Magenprobleme.“ Er hat sich auf alle eingestellt – egal, wer da kam.  

Tolga mag die Leute hier, vor allem die vielen Familien mit ihren kleinen und großen Kindern. Er ist selbst ein Familienmensch, sagt er, wohnt mit seinen 26 Jahren immer noch bei seiner Mutter, zusammen mit seinem kleinen Bruder. 

 

„Alter, bist Du bescheuert?“ 

 

Der große Bruder sein, das konnte er auch am Helmi ziemlich gut. Vor dem Kiosk steht eine Eckbank, tagsüber hängen hier Jugendliche ab. Tolga erzählen sie ihr Leben. Von ihren Parties und Problemen, von dem Mist, den sie bauen, von den Drogen, die sie ausprobieren. Tolga hört zu.

Vor dem Späti Raumerstraße 6

 

Meistens kommt er schon eine Stunde vor seiner Schicht, raucht mit den Jugendlichen, klopft Sprüche. Aber wenn einer eine Grenze überschreitet, mischt er sich ein. Mit 15 Ecstasy ausprobieren? „Alter, bist Du bescheuert?“ Tolga kann ihnen das sagen. Weil er weiß, wovon er spricht. Weil er selbst erlebt hat, wie schnell der große Spaß und die große Freiheit in ihr Gegenteil umschlagen. 

 

Mit 14 geriet er auf die schiefe Bahn 

 

Er ist auf der Oranienstraße in Kreuzberg aufgewachsen, im alten SO 36, von Gentrifizierung noch keine Spur zu der Zeit. Es waren die frühen neunziger Jahre, auf der Straße offene Gewalt, in den Tagen um den ersten Mai Straßenschlachten vor seinem Zimmerfenster. Tolgas Mutter trennte sich vom Vater und arbeitete Nachtschichten, weil sie die Familie durchbringen musste. Mit 14 schmiss Tolga die Schule, schloss sich den falschen Leuten an, geriet auf die schiefe Bahn. 

Gerettet hat ihn seine Mutter. Sie hat gesehen, wie er immer weiter abrutschte, und ist mit ihren Kindern weggezogen, in eine ruhige Ecke von Friedrichshain. Tolga hat alle Kontakte in die Szene abgebrochen und noch mal neu angefangen. Den Schulabschluss nachgeholt, verschiedene Jobs gemacht. 

 

Nachts werden die Jugendlichen aktiv

 

Als er in einem Internetcafé gearbeitet hat, hat er Cahit Ince getroffen, den Inhaber des Spätis an der Raumerstraße. Den kannte er von früher, Inces Eltern haben oft auf Tolga aufgepasst, wenn die Mutter über Nacht arbeitete. Ince hat ihm den Job in seinem neuen Kiosk angeboten, und Tolga war vom ersten Tag an dabei. Angestellt mit festem Vertrag. 

„Klar geht es hier in Prenzlauer Berg nicht so krass ab wie früher in Kreuzberg“, meint Tolga. Aber die Jugendlichen vom Helmi haben auch ihre Probleme, zuhause, in der Schule, mit Freunden. Die seien definitiv nicht so harmlos, wie sie mit ihren hübsch frisierten Köpfen und ihren North Face-Jacken wirkten, sagt Tolga. „Nachts werden die aktiv. Die bauen jede Menge Mist!“ 

 

Der Sozialarbeiter vom Helmi

 

Er hat mitbekommen, was viele Eltern nur ahnen. Deswegen sind auch die gerne zu Tolga rübergegangen. Mal hören, was der Nachwuchs treibt. Alles im grünen Bereich? Bei der Gelegenheit konnten sie ihre eigenen Themen auch gleich noch an den Mann bringen:  Seitensprung, Trennung, Job weg. „Ich habe von vielen hier viele Gesichter gesehen“, sagt Tolga. Er hat sich alle Geschichten angehört, ist darauf eingestiegen. 

Seine Klientel wechselte mit der Tageszeit: am Vormittag saßen die Arbeitslosen vor der Tür, am Nachmittag die Kinder, am Abend die Jugendlichen. Und ab 01.00 Uhr nachts schlug die Stunde der Verrückten, sagt Tolga. „Ich war hier echt ein Sozialarbeiter“, grinst er. 

 

Den Späti übernimmt eine Familie 

 

Ab heute werden sie alle ohne ihn auskommen müssen. Der Kiosk ist verkauft, und Tolga folgt seinem Chef nach Steglitz. Dort steigt Ince in ein Franchise-Café in einem Einkaufzentrum ein. Eigentlich wäre der gerne im Kiez geblieben und hätte hier einen zweiten Laden aufgemacht, aber daraus wurde nichts. Zu teuer, zu unsicher. Den Kiosk an der Raumerstraße hat eine Familie gekauft, die dort weiterhin einen Späti betreiben will. 

Tolga hätte den Laden nur zu gerne selbst übernommen, aber dafür hat sein Geld nicht gereicht. Er sagt, dass ihm die Nachbarn und der Kiez wahnsinnig fehlen werden. In den letzten Tagen hat er versucht, sich jedes Detail noch mal genau einzuprägen, wenn er hier durch die Straßen gelaufen ist. 

Natürlich will er auch in Zukunft immer mal wieder vorbeikommen. „Aber das wird sich komisch anfühlen“, meint er. Als Gast in seinem Revier. 

 

 

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