Flüchtlinge kommen nicht nur in Booten über das Mittelmeer, sie sitzen auch in Schulen im Kiez und lernen, „Stuhl“ richtig zu schreiben. Unterstützt werden sie dabei – und bei vielem mehr – von Ehrenamtlichen.
Taylor Swift hat ihren Einsatz verpasst. Na gut, eigentlich ist es Sascha*. Er hat die Aufgabe, im richtigen Moment die Musik einzuschalten, und weil Quatschmachen mit Milan kurzfristig spannender war, stehen die anderen Kinder ein paar Sekunden sehr verloren auf der Bühne. Dann erst können sie allen Frust, Angst, Sorgen von sich abtanzen – so, wie sie es seit ein paar Wochen für die Schulaufführung einüben.
„’Cause the players gonna play, play, play, play, play
And the haters gonna hate, hate, hate, hate, hate
Baby, I’m just gonna shake, shake, shake, shake, shake
I shake it off, I shake it off.“
Popstar Taylor Swift versucht, mit dem Lied alle Neider, Boulevardjournalisten und Internet-Trolle abzuschütteln.
Die Kinder auf der Bühne haben damit nichts am Hut. Die Hater in ihrem Leben sind nicht mit Worten, sondern Waffen unterwegs. Auf der Flucht vor ihnen sind sie in kleinen Booten über das Mittelmeer gekommen, haben sich mit ihren Familien über den Landweg durchgeschlagen und sind dann irgendwann in Prenzlauer Berg in einer zur Erstaufnahmeinrichtung umgebauten Schule gestrandet. Ob sie in Deutschland bleiben dürfen, ist meist noch nicht raus. An deutsche Gesetze müssen sie sich dennoch halten, und die besagen: Schulpflicht.
In der Grundschule am Teutoburger Platz bilden zwölf von ihnen nun eine von zwei Willkommensklassen. Hier lernen sie nicht nur die Sprache, sondern kommen auch mit der Kultur in Kontakt, die manchmal auch vorsieht, dass man in der dritten Stunde zu Taylor Swift den Hass wegtanzt.
Kleiderkammer, Begleitung zum Amt, Traumabewältigung
In der Klasse bin ich die Neue. Ein paar Wochen zuvor habe ich mich dem „Unterstützer_innenkreis für die Erstaufnahme Straßburger Straße“ angeschlossen – auch um herauszufinden, wie es den Flüchtlingen in unserem Bezirk ergeht, von denen wir in der Redaktion immer nur über Pressemitteilungen und Politiker-Statements erfahren.
Der Kreis wurde im Sommer des vergangenen Jahres von Ines Stürmer und ihrem Mann Henry Koch gegründet. „Ich wohne in der Nachbarschaft des Heims, wollte irgendwas tun und bin erstmal mit ein paar Tüten Klamotten dort aufgelaufen“, erzählt Stürmer. Dass sie mit dieser Idee nicht alleine war, aber eigentlich ganz andere Hilfen vonnöten war, wurde schnell klar. Kurz darauf war der Unterstützerkreis gebildet. Damals hatte er sechs Mitglieder, mittlerweile sind es etwa 180.
Einmal im Monat treffen sie sich im großen Gemeinschaftsraum des Hausprojektes in der Fehrbelliner Straße, in dem die zwei Gründer leben. Die beiden halten den Verbund an Ehrenamtlichen und all ihren Projekte zusammen, die mittlerweile auf die Beine gestellt wurden: Kleiderkammer, Hausaufgabenhilfe, Sport für die Kinder, Yoga für die Mütter. Es gibt Freiwillige, die die Geflüchteten bei wichtigen Terminen ins Amt und zu Anwälten begleiten, die sich zum Sprach-Tandem treffen, die gemeinsam den Hof des Heims bepflanzen wollen und auch welche, die die Probleme, die vor Ort auftreten, an die Politik herantragen. Eine Gruppe Psychotherapeuten hat sich im Bereich Traumabewältigung fortgebildet, ein Zahnarzt die Zähne der Kinder kontrolliert, eine Gruppe Grafiker und Übersetzer einen kleinen Stadtplan vom Kiez erstellt und mit einer Druckerei aus dem Kiez produziert. Seit Neuestem gibt es alle vier Wochen ein Allerweltscafe im Jugendclub in der Königstadtbrauerei.
Alle helfen gerne, keiner bekommt Geld, und niemand macht großes Aufheben darum, was hier geleistet wird.
Ist schließlich nur Nachbarschaftshilfe, meinen sie.
Unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Alter – eine Klasse
Als ich das erste Mal im März bei einer der Treffen sitze, hat sich gerade die Schule vom Teutoburger Platz an die Ehrenamtlichen gewandt. Ob vielleicht jemand bereit wäre, die Willkommensklassen im Schulalltag zu unterstützen? Vier Wochen später steht ein Stundenplan, der sicherstellt, dass jede Klasse an jedem Tag auch von einem Freiwilligen begleitet wird.
„Die Kinder sind unterschiedlich alt, sie sprechen unterschiedliche Sprachen und sie kommen aus sehr unterschiedlichen Kulturen“, erzählt ihre Lehrerin, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. „Die einen stammen aus einem sehr geregelten Bildungsumfeld und sprechen sogar Englisch, manche sind sehr autoritären Unterricht gewöhnt, und bei manchen haben Krieg und Flucht auch ein Trauma hinterlassen.“
Als wäre das der Herausforderungen nicht genug, steht die Klasse im permanenten Wandel. Im Idealfall können die Kinder nach einer gewissen Zeit in eine der Regelklassen wechseln. Andere haben dazu keine Gelegenheit, weil ihre Familien wieder abgeschoben werden.
Dafür rücken Neue nach, die erst einmal das Alphabet lernen müssen, während ihre Klassenkameraden schon deutsche Wörter lesen können.
Die Ehrenamtlichen sind zwar zumeist keine Pädagogen. Aber sich dazusetzen und Deutsch sprechen können sie allemal.
„š“, „ž“ oder „č“? „Sch“!
So kommt es, dass ich nun an manchen Tagen mit Amisa aus Bosnien und Taško aus Serbien in einem kleinen Nebengelass des Klassenraums sitze und merke, wie schwer die deutsche Sprache ist. Wir schreiben „Das ist eine Schultasche“. Lernen, dass das deutsche „Sch“ drei Buchstaben braucht und sich nicht etwa „š“, „ž“ oder „č“ schreibt. Und verzweifeln dann am Wort „Stuhl“.
Wenn wir eine Übung in ihren Sprachbüchern durchgespielt haben, wiederholen wir das Gelernte an der Tafel – einfach, weil alles mehr Spaß macht, wenn man dazu rote Kreide benutzen kann. Die beiden sind so klein, dass sie dazu auf Stühlen stehen müssen, und schreiben doch artig „Das ist eine rote Maus“ neben meine dilettantische Zeichnung. Ich hingegen versage völlig bei dem Versuch, „23“ auf Bosnisch auszusprechen. Vielleicht ist es auch Serbisch. Ich weiß nicht einmal, welche Sprache die beiden miteinander sprechen, die hier gerade tausende Kilometer von ihrem Zuhause entfernt damit klarkommen müssen, dass das Deutsche drei Artikel unterscheidet.
Bis sie meine Frage danach verstehen, wird es noch ein wenig dauern. Dass sie vorher noch den Begriff „sicheres Herkunftsland“ kennenlernen und mit einem abgelehnten Asylantrag wieder nach Hause zurückgeschickt werden, ist nicht ausgeschlossen.
Mit sechs Nationen ins weltweite Netz
Einmal sind wir mit der gesamten Klasse im Computerraum. Es ist der Tag, an dem das Google eine Weltkugel als Doodle hat, was dazu führt, dass zwölf Kinder aus sechs Nationen in einem Schulraum in Prenzlauer Berg sitzen und aufgeregt auf die sich drehende Erde schauen, bis sie loslegen und nach „Limonade“, „Fuß“ und „Toast“ bildersuchen dürfen. Das Gefundene wird dann ausgedruckt und später zu einem eigenen, lustigen Sprachspiel verarbeitet.
Für mich bleibt das Wort „herzzerreißend“ hängen.
An einem anderen Tag ziehen wir in kleinen Gruppen durch die Schule und lernen am lebenden Objekt, was eine Sekretärin und ein Erdgeschoss sind. Mal machen wir ein Quiz, wo dieses Brandenburger Tor wohl steht. Und als alle ihre Choreographie für das Schulfest üben, lasse ich mir währenddessen von Milan erklären, dass sein Vater dagegen war, dass auch er tanzt. Dabei hat der Junge durchaus Rhythmusgefühl, das kann man sehen, wie er da im Takt auf seinem Stuhl mitwippelt. Früher habe er selbst Musik gemacht, erzählt er, und spielt kurz Luft-Geige. Dann sagt er „zu Hause“ und macht dazu eine ausladende Bewegung, als wolle er einen riesigen Tisch in einem Zug leerfegen.
Es gibt eben gute Gründe, dass die Kinder heute hier sind. Im Schulalltag vergisst man das nur leicht, denn sie sind lustig und herzlich und offen und natürlich viel zu laut, wenn man mit ihnen während des Unterrichts kurz im Schulflur unterwegs ist.
„Für die Flüchtlinge sind wir Deutschland“
Nur einmal, als in einer kurzen Pause zwischen zwei Stunden doch etwas zu hoch hergeht, bekommt Sascha zu viel. Erst schreit er, dann versteckt er sich. Etwas Schlimmes geht in ihm vor, das ist unübersehbar. Zum Glück bekommt seine Lehrerin die Situation schnell in den Griff, indem sie beruhigend auf die Schüler einspricht. „Allen Kindern mit ihren Fähigkeiten, Problemen und Geschichten gerecht zu werden, ist eine ganz schöne Herausforderung“, meint sie später. Sie meistert sie, das kann man hier ruhig auch mal schreiben, mit Bravour.
Das ist wichtig. „Für die Flüchtlinge sind wir Deutschland“ lautet ein Satz, der im Umfeld des Unterstützerkreises immer wieder fällt. Die Mitarbeiter des Heims, die Lehrer der Willkommmensklassen, aber auch die vielen Ehrenamtlichen sind die ersten Kontakte der Geflüchteten zu diesem Land. Während Bürokratie, die provisorische Unterbringung in Massenunterkünften und Aufmärsche Altgestriger ihnen auch hier das Leben zunächst nicht einfach machen, wollen sie zeigen, dass sie ihnen als Nachbarn willkommen sind.
Mittlerweile haben sich zu allen Flüchtlingsheimen in Pankow auch Unterstützerkreise gebildet. Mehr Informationen dazu finden sich auf der Webseite www.pankow-hilft.de.
* Die Namen der Kinder wurden geändert.