Reinhard Fuhrmann saß als „Republikflüchtling“ in der Haftanstalt Hohenschönhausen. Es war sein Ticket in den Westen. Die Wende erlebte er trotzdem in Prenzlauer Berg. (Aus dem Archiv.)
ARTIKEL vom 22. Oktober 2014
Zwischen beide Nasen passt eine Faust. Der Wachmann im Stasi-Knast steht oben auf der Treppe, man selbst unter ihm. Das Gesicht samt gekrempelten Augenbrauen nähert sich dem eigenen, man spricht jetzt deutlich und weicht etwas zurück. Oktober 2014, der Mann ist vom Sicherheitsdienst der Gedenkstätte Hohenschönhausen und nicht bar einer gewissen Breitbeinigkeit. Kurz darauf wird er einen etwas frechen Touristen ermahnen, dass ihn niemand zwinge, herzukommen und es „nun mal Regeln“ gebe. Der Mann ist für die Sicherheit in der Gedenkstätte verantwortlich, und er nimmt das sehr ernst, in einem Meer von pubertierenden Klassenfahrtlern. Lektion: Uniformen und ein wenig Macht tun den Betroffenen nicht immer gut. Wie ging es hier also früher zu, als nicht Geschichtstouristen, sondern politische Gefangene zu zügeln waren?
Ein ehemaliger Häftling soll das erklären, deshalb ist man hier. Reinhard Fuhrmann, gebürtiger Prenzlauer Berger, „Republikflüchtling“. Fuhrmann ist gerade noch mit einer Gruppe unterwegs, und später wird er über den Sicherheitsmann liebe Worte sprechen, der scheint tatsächlich sonst ganz umgänglich zu sein. Fuhrmann hat da schon ganz andere Kaliber erlebt, vor 40 Jahren – von dieser Zeit berichtet er nun als Referent im alten Stasi-Knast. Führt Besucher durch das ehemalige sowjetische „Speziallager“, das später dem Ministerium für Staatssicherheit als zentrale Haftanstalt für politische Gefangene diente. Einer von Tausenden war Reinhard Fuhrmann. Das Gefängnis war für ihn eine Durchgangsstation: Von seiner alten Heimat Prenzlauer Berg in den Westen. Dass er den Mauerfall dann trotzdem auf der Bösebrücke erlebte, und zwar auf der Ostseite – nichts weiter als ein Zufall.
Der Vater wird zum Schuhverkäufer degradiert
Reinhard Fuhrmann wurde 1948 in Prenzlauer Berg geboren, lebte mit seiner Familie in der Bötzowstraße, mit „herrlichen Blick auf den Park“, wie er erzählt. Kurz vor der Einschulung zogen sie an den Ostseeplatz, damals eine sozialdemokratisch geprägte Gegend. Das „Stehkragenproletariat“ habe sich da gesammelt, sagt Fuhrmann: Polizisten, Selbständige, viele Angestellte. Dass die Familie schon früh mit der SED und deren DDR haderte, lag auch an der Geschichte des Vaters, der eigentlich beste Voraussetzungen für eine sozialistische Karriere mitbrachte. 1949, kurz nach Gründung der DDR, studierte er Wirtschaftswissenschaften, wurde SED-Mitglied und direkt nach dem Abschluss 1954 in ein staatliches Forschungsprojekt geholt. Dort sollte es um die Konvertierbarkeit der DDR-Mark gehen. Vater Fuhrmann schlug vor, dafür den Immobilienmarkt der DDR zu öffnen. 1956 galt das als Verrat der sozialistischen Idee und er wurde zum Schuhverkäufer degradiert. 1960 war die Strafmaßnahme beendet, er durfte wieder in den Staatsdienst. „Aber an eine Karriere war nicht mehr zu denken“, erinnert sich der Sohn. „Bei uns und in unserem gesamten Umfeld kam schon damals kaum noch jemand auf die Idee, für die DDR zu sein.“ Es war der Anfang einer unmöglichen Beziehung.
Fuhrmann ging nach Jena, schrieb sich für ein Mathematik-Studium ein, vor allem die Kybernetik habe ihn damals interessiert: Ein klarer und berechenbarer Zusammenhang von Tun und Wirken, das habe ihn an dieser Wissenschaft gereizt. „Es war aber der falsche Dampfer“, merkte Fuhrmann schnell und schrieb sich 1968 für Philosophie ein. Mit Kommilitonen gründete er eine Studentengruppe, die Filmabende, Diskussionsrunden und Lesungen organisiert. Die Stasi im Bezirk Gera beäugte die Gruppe misstrauisch. Als schließlich noch eine sozialismuskritische Schrift verfasst und der beim Regime durchgefallene Schriftsteller Stefan Heym zu einer Lesung eingeladen wurde, war Fuhrmanns akademische Laufbahn beendet: Er wurde exmatrikuliert und auf Lebenszeit für alle Hochschulen und Universitäten der DDR gesperrt. Er entschloss sich zur Flucht.
Selbstmord als letzte Möglichkeit der Selbstbestimmung
1972, Sommer in Bulgarien, alles lief reibungslos. Über die grüne Grenze liefen Fuhrmann und ein Freund nachts nach Jugoslawien, den blockfreien Staat, über den sie in die Bundesrepublik ausreisen wollten. Übermüdet erreichten sie am Morgen einen Bauernhof, baten einen Mann um Hilfe, die damals nach gängiger Meinung DDR-Flüchtlingen in Jugoslawien gerne gewährt wurde. Der Mann war Polizist und sah das anders. Fuhrmann wurde zurück nach Bulgarien geschickt und landete nach einer Woche als „Republikflüchtling“ in Hohenschönhausen. Ihm wurde der Prozess gemacht.
Mehr als 40 Jahre später führt Fuhrmann Hamburger Schüler durch den Knast. Er erzählt von den Häftlingen, die Löffel zerbrachen und Teile schluckten. Ein Selbstmordversuch, aber „auch eine Möglichkeit, endlich wieder selbstbestimmt zu handeln“. Er spricht über das Tabu, dem Wachpersonal in die Augen zu schauen, das Mantra „Kopf nach unten!“ Es geht in die Zellen, die nichts als ein Bett, einen Tisch und Glassteine als Fenster boten. Nachts das Verbot, Hände und Gesicht zu bedecken oder zur Seite zu drehen, tagsüber die tödliche Langeweile, „bei der man sich bald danach sehnte, verhört zu werden“. Fuhrmann erlebte das übliche Prozedere: Einen von Termin zu Termin freundlicher werdenden Stasi-Mann, der einem irgendwann sogar Kaffee anbietet. Filmerprobte Good-Cop-Bad-Cop-Strategie: „Der Vernehmer sollte die zentrale Person im Leben des Häftlings werden, immer mit der unausgesprochenen Drohung, dass es auch böse Kollegen gibt. So kommt man irgendwann an Geständnisse.“
Morbide Gemütlichkeit bei den Oppositionellen
Fuhrmann weiß, dass er nicht das härteste Häftlings-Schicksal in Hohenschönhausen hatte. Bereits nach der Hälfte der zwei vorgesehenen Haftjahre wurde Fuhrmann entlassen, im Sommer ’73. Die Regierung Brandt kaufte ihn frei, wohl auf Initiative des SPD-Fraktionschefs Herbert Wehner, der das Mitglied einer als sozialdemokratisch eingestuften Studentengruppe rausholen wollte. Fuhrmann zog nach West-Berlin, bereits ein Jahr später durfte er schon wieder für Besuche in die DDR einreisen. „Wahrscheinlich, weil die Stasi hoffte, so auf weitere Dissidenten zu stoßen, ich stand ja unter Beobachtung.“ Meistens zog es Fuhrmann in den folgenden Jahren zu alten Weggefährten nach Jena, nach Leipzig, und natürlich auch wieder nach Prenzlauer Berg. Er arbeitete in dieser Zeit als Selbständiger für den Ullstein-Verlag. Die Mutter war als Rentnerin inzwischen ebenfalls nach West-Berlin gezogen, später kam auch die Schwester nach, legal, sie stellte einen Ausreiseantrag. Der Vater starb 1979.
Seine Besuche in Prenzlauer Berg, vor allem ab Mitte der ’80er, hat Fuhrmann als „fürchterlich“ in Erinnerung. „Es war eine Atmosphäre des Abschieds. Sehr viele waren ja schon in den Westen gegangen.“ Erste Anläufe von Oppositionsarbeit erlebte er damals, das, was später in die Ereignisse um die Zionskirche oder die Umweltbibliothek mündete. Noch schlimmer sei die Stimmung in Jena gewesen, neben Prenzlauer Berg eine der Zentren der DDR-Dissidenten. „Dort herrschte eine morbide Gemütlichkeit, Untergangsstimmung“. Viel Alkohol, viel Zynismus, so hätten die Oppositionellen damals auf das Ende des Regimes gewartet. „Und zum Ende hin wurde es dann immer brodelnder.“
Die Grenze überschritt Fuhrmann am 9. November nicht
Am 9. November ’89 stand für Fuhrmann mal wieder eine Reise an: Ein Freund in Jena feierte am 10. des Monats Geburtstag, dort wollte er hin, mit einem vorherigen Abstecher nach Ost-Berlin. Hier traf er zwei alte Schulfreunde, den Abend verbrachten sie bei einem der Beiden zuhause in Wilhelmsruh. „Gegen zehn riss dann die Tochter die Tür auf und rief, dass die ‚Mauer weg‘ ist.“ Die Freunde setzten sich in Fuhrmanns Mercedes und fuhren, auf zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Fuhrmann war zu dem Zeitpunkt schon lange bei Ullstein entlassen worden, arbeitete frei und eine Weile auch als Taxifahrer. „Entsprechend rasant bin ich gefahren“, erinnert er sich an den Abend des Mauerfalls. „Während sich alle anderen mit ihren Trabants diszipliniert in die Schlange eingeordnet haben, bin ich vorbeigefahren.“ Zu Fuß ging es dann zur Brücke. „Ein stummes Gehaste“, beschreibt Fuhrmann die Stille, die sich erst an der Grenze auflöste. „Die Feierstimmung kam erst sehr viel später, als schon die ersten von der anderen Seite rüber kamen.“
Einer der beiden Freunde zählte die Grenzübertritte an der Bösebrücke. „40 Jahre Gefängnis pro Minute“, habe der dann gesagt, „das überlebt die DDR nicht“. Die Freunde schlossen sich der Masse an – Fuhrmann blieb. „Ich wollte ja am nächsten Tag weiter nach Jena“. Er schlief im Haus des Freundes in Wilhelmsruh, die wilden Feiern verpasste er. Tags darauf fuhr er wie geplant nach Jena, die Feier dort fiel kleiner aus als geplant, viele Gäste standen im Stau Richtung Bayern. Bei seiner Rückreise nach West-Berlin, diesmal über Potsdam, wurde er „bevorzugt abgefertigt. Und die DDR-Bürger in der Schlange haben mir applaudiert, so recht weiß ich gar nicht mehr, warum.“ Vieles war seltsam damals.
Zurück nach Prenzlauer Berg wollte er nicht mehr
Nach Prenzlauer Berg ist Fuhrmann nach der Wende nicht zurückgezogen. Sein Erstwohnsitz ist bis heute in Lübeck, die Frau arbeitet dort als Lehrerin. Ein kleines Appartement hat Fuhrmann in Pankow. Geld verdiente er in den Neunzigern vor allem als Lektor und Autor von Berlin-Reiseführern und als Leiter von Exkursionen nach Berlin, zum Beispiel des Goethe-Instituts oder des DGBs. Dass die DDR und die Haft sein Leben zerstört hat, das glaubt Fuhrmann nicht. „Ich habe mich ja ganz gut durchgeschlagen“, sagt er.
Zum Schluss der Führung spricht Fuhrmann die Debatte um den „Unrechtsstaat“-Begriff für die DDR an, er hat da keine überraschende Meinung zu. Es sind dann die Lehrer, die mit Fuhrmann das Thema besprechen, die Schüler können mit der Frage nicht so viel anfangen. Zum Abschied applaudieren sie alle Fuhrmann, er dreht sich langsam weg, geht zum Besucherzentrum. Die nächste Schülergruppe wartet schon. Auch sie wollen etwas hören, aus dieser fremden Welt, die Reinhard Fuhrmann so gut kennt.
Lesen Sie hier weitere Texte aus der Reihe zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.
2. Teil: Manfred Kristen war zur Wende Polizist in Prenzlauer Berg. Die Grenze der DDR beachtet er bis heute.
Und hier erklären wir, warum es diese Reihe gibt: Warum die Wende in Prenzlauer Berg auch heute noch ein Thema ist, bei dem keineswegs nur Einigkeit herrscht.