Was bleibt

von Thomas Trappe 8. Oktober 2014

Der Mauerfall jährt sich zum 25. Mal. Die Wende liegt damit eine Generation zurück. Dock kaum irgendwo sonst wie in Prenzlauer Berg ist die Teilung noch so spürbar.

Vor drei Jahren schenkte ich meinen Eltern einen Bildband. Alltagsfotografien aus der DDR, ein schweres Werk mit viel Leben zwischen den Klappen, und Ruinen. Ich mochte den Band auf Anhieb, und deshalb nahm ich an, dass es meinen Eltern, deren Leben sich in diesem Buch ja vielmehr spiegeln musste als mein eigenes, genauso ergehen müsste. Ich täuschte mich. Ich glaube, sie fanden es ganz nett, so, wie man ein Geschenk halt nett findet. Wer sich schließlich in das Buch vertiefte, war ich. Ich hatte das Gefühl, ich saugte diese Bilder auf, als Teil eines Lebens, das zu mir gehört, aber meiner Erinnerung entgleitet, wie die Stimme eines Menschen, den man vor langer Zeit verloren hat. Inzwischen erscheint es mir ganz abwegig, dass ich dieses Buch verschenkt habe, und die Begründung steht oben: Ein Leben, das man geführt hat, muss man nicht mit alten Aufnahmen rekonstruieren, es ist so real wie die tägliche Mittagspause. Ich, Jahrgang 1981, DDR, Bezirk Erfurt, bin hier derjenige, dem etwas abhanden kommt, die Erinnerung. Ich lebe in einer Art Zwischenreich der Nachwende. Alleine fühle ich mich da aber weiß Gott nicht.

Jana Hensel, geboren 1976 in Borna, schrieb vor mehr als zehn Jahren eine Art Manifest, „Zonenkinder“, in dem es um das Leben der Menschen geht, deren Jugend mit der DDR endete und die, eigentlich ein Segen, mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter wirklich ein neues Leben begannen. Das Buch ist zauberhaft und genial, und so vieles möchte man zitieren, dass man es leider ganz lassen muss. Es folgten in den Jahren zig Bücher, journalistische Texte, Essays unzähliger Ost-Autoren, so dass jemand, der gerne von der vollendeten Einheit träumt, nur kotzen kann. Die „Dritte Generation Ostdeutschland“ ist der jüngste Beitrag zum Gesamtwerk, inzwischen gibt es ein Netzwerk gleichen Namens. Menschen wie ich, die sich ziemlich gut in der heutigen Zeit zurechtfinden und weit entfernt davon sind, sich als Opfer der Geschichte zu sehen. Nur, ihre eigene Geschichte opfern wollen sie deswegen nicht. 

 

Wo eine Mauer eingerissen wird, kann ein Graben zurückbleiben

 

Ich bin überzeugt, dass es Unterschiede zwischen Menschen gibt, die in der DDR aufwuchsen und von Eltern erzogen worden, deren gesamte Sozialisation in diesem Land stattfand – und jenen, die auf der anderen Seite der Grenze aufwuchsen. Ich teile diese Meinung mit den meisten meiner ostdeutschen Freunde, mit den wenigsten meiner westdeutschen. Das Missverständnis, was mich schon öfter in erhitzte Diskussionen ob dieses Themas führte, ist ein grundsätzliches: Dass an diesem Unterschied irgendetwas problematisch sei, man sozusagen die Bereitschaft zum Zusammenleben aufkündigt. Dabei sind es ja immer die Unterschiede, die Reibungen, die unterschiedlichen Fixpunkte der eigenen Lebenswelt, die ein Zusammenleben erst spannend machen. (Es ist ja dabei ganz witzig, dass jene, die den „Zonenkindern“ eine übertriebene Neigung zur Homogenität unterstellen, oft auch die sind, die am ehesten darauf drängen, sich doch endlich als vereinter Bundesbürger zu definieren.)

Wir können dann hier endlich auf Prenzlauer Berg zu sprechen kommen. Genannte Bildbänder sind zu großen Teilen Chroniken des Lebens in diesem Stadtteil, und nicht umsonst hat die legendäre Agentur Ostkreuz, ein nach der Wende gegründetes Kollektiv ostdeutscher Fotografen, ihren Sitz an der Prenzlauer Berger Peripherie. Kaum irgendwo sonst ließ sich der Alltag der DDR so gut festhalten wie hier, wo so viele Fotografen auf so viel Leben stießen. Gustav Seibt hat in seinem bei uns erschienenen Text dazu etwas gesagt, in dem viel Holzschnitt, aber eben auch viel Wahrheit drin steckt. „Die in den letzten Jahren neu hinzugezogenen Bezirksbürger mögen sich beim Blättern in den Lehmstedt-Bänden doch auch klar machen, dass sie eine vorangehende Bevölkerung regelrecht verdrängt haben: aus einem Bezirk von Arbeitern, kleinen Leuten, Künstlern und höchst selbstständigen Jugendlichen wurde ein bürgerlich-mittelständischer Familienbezirk, voller besorgter Mütter, Bioläden, Bistros und Wochenmärkte.“

Prenzlauer Berg: Das ist der Ort, der wie kaum ein zweiter in Deutschland für die Wende steht und den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Hier wurde wahr, wovon bis heute ostdeutsche Kommunalpolitiker außerhalb von Leipzig, Jena, Dresden und Potsdam nur träumen können – Menschen aus dem Westen kamen und inzwischen machen sie einen Großteil der Bevölkerung aus, vielleicht auch den größeren, wer weiß es schon. Politikromantikern und Wendeverlierern treibt das gleichermaßen die Tränen in die Augen, aus völlig verschiedenen Gründen. Und wir von den Prenzlauer Berg Nachrichten wissen nach vier Jahren Berichterstattung: Wo eine Mauer eingerissen wird, kann ein Graben zurückbleiben.

 

Die Üblichen haben alles erzählt

 

Das fängt an bei den leidigen Leser-“Debatten“ um die sogenannten Zugezogenen und hört lange nicht damit auf, dass schwerste Geschütze bei historischen Exkursen aufgezogen werden. „Ostig“, ein Wort, das man auch unter unseren Artikeln gelegentlich lesen kann, und das Augenzwinkern hinter diesem Begriff wirkt generell ja immer etwas verkrampft. Wer gehört hierher, wem gehört das Geld, wem die Geschichte? Die Diskussionen, die bei solchen Anlässen entstehen, werden zumeist schnell plump und persönlich – und sie beweisen, dass nicht alles einig ist im Vaterland. 

2007 war es, dass ich mit Lutz Rathenow, einen umtriebigen Mann und ehemaligen Prenzlauer Berger Bürgerrechtler, in einem Siebenbürger Kellerlokal ein Abendessen einnahm. Rathenow redete und erklärte viel, man kommt bei ihm kaum zu Wort. So war es dann auch bei unserem zweiten Treffen in einem Dresdner Restaurant, Jahre später, inzwischen war Rathenow sächsischer Beauftragter für Stasiunterlagen und wollte mich wegen eines Artikels, den ich über einen seiner Freunde geschrieben hatte, die Leviten lesen. Ich schätze Rathenow, auch weil er mir gelegentlich Bildbände schickt, an denen er mitgewirkt hat. Doch mit Verlaub: Ich kenne all ihre Geschichten auswendig. Und frage mich, ob das nicht alles ein bisschen einfach ist?

Klaus Wolfram, Bürgerrechtler des Jahrgangs 1950 und Mitbegründer der in Prenzlauer Berg ansässigen Robert-Havemann-Gesellschaft, hat die Folge der Fokussierung auf Neues Forum und Stasi in der Geschichtsschreibung in der sehenswerten Dokumentation „Die Schuld der Anderen“ etwas resigniert zusammengefasst. „Man lebt heute auf einem Sockel von Unausgesprochenem [..] Aus den Polizeiakten eines Staates kann man nicht das soziale Leben einer Gesellschaft rekonstruieren.“ Wolfram artikulierte ein Unbehagen, das viele ehemalige DDR-Bürger umtreibt – und deren Kinder, meine Generation, die „Zonenkinder“, vielleicht noch mehr. Denn sie sind auf das Erzählte angewiesen.

 

Jenen eine Stimme geben, die die Wende nicht als Glücksfall erlebten

 

Die Prenzlauer Berg Nachrichten wollen in den kommenden Wochen versuchen, ein Mosaik der Wende und ihrer Folgen für den Prenzlauer Berg von heute zu erstellen – und auch jenen eine Stimme geben, für die dieses Ereignis kein Glücksfall der Geschichte darstellte. Sei es, weil sie an den Sozialismus glaubten, oder weil sie dachten, ein Leben zu führen, auf das sie sich verlassen können. Ihre Geschichten wollen wir in einer Mini-Serie neben die jener Menschen stellen, die die Wende aus einer Lethargie in einem ihnen fremden Land erlöste und solche, die sie von der anderen Seite der Mauer aus erlebten. Mit der Aufgabe, die Wende und den Prenzlauer Berg komplett zu verstehen, das wissen wir, können wir auch weiterhin nur scheitern. Aber ein Gespräch darüber anzuregen – das wäre ja schon mal ein Anfang.

 

Lesen Sie hier weitere Texte aus der Reihe zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.

1. Teil: Tim Eisenlohr verbrachte seine Jugend in der DDR-Opposition, mit 14 wurde er von der Stasi verhaftet. Erst seit Kurzem berichtet er als Zeitzeuge über die damaligen Ereignisse.

2. Teil: Manfred Kristen war zur Wende Polizist in Prenzlauer Berg. Die Grenze der DDR beachtet er bis heute.

3. Teil: Reinhard Fuhrmann saß als „Republikflüchtling“ in Hohenschönhausen. Später wurde er vom Westen freigekauft. Den Mauerfall erlebte er dennoch in Ost-Berlin. 

4. Teil: Holger Kulick brachte als ZDF-Reporter die DDR in die Wohnzimmer in Ost und West. Heute beschäftigt ihn die Aufarbeitung der Stasi-Akten.

5. Teil: Günter Wehner wurde 1953 von Wilhelm Pieck persönlich in die SED gebeten. Später war er Geschichtslehrer, Armeenlenker und Macher des Traditionskabinetts im Ernst-Thälmann-Park. Mit dem Mauerfall kam die Frührente; als Historiker ist er weiter im Dienst.

 

Wir sind eine werbefreie Mitgliederzeitung. Unsere (zahlenden) Mitglieder machen unsere Arbeit überhaupt erst möglich. Bitte werden Sie jetzt Mitglied und unterstützen Sie uns: Hier geht es lang! Vielen Dank!

Wenn Sie schon Mitglied sind, können Sie den Link unten im Kasten teilen und diesen Artikel so Ihren Freunden zum Lesen schenken.

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar