In einer berührenden Porträtsammlung erzählt der Prenzlauer Berger Journalist Markus Decker von rund zwei Millionen Westdeutschen, die nach der Wende ihr Glück im Osten suchten.
Zu Hause im Kollwitzkiez, beheimatet im Münsterland: Der Journalist Markus Decker kam 1992 als 28-Jähriger aus dem nordrhein-westfälischen Borghorst in den Osten. Jetzt hat er ein Buch über Menschen geschrieben, mit denen er diese biografische Erfahrung teilt. Zu diesen „Westdeutschen im Osten“ gehört bekanntlich ein Großteil der Berliner, insbesondere der Prenzlauer Berger Bevölkerung. Decker porträtiert aber auch Rentner in Görlitz, Studenten in Greifswald, den aus Düsseldorf stammenden Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer, oder Ilse Junkermann, die schwäbische Landesbischöfin der stetig schrumpfenden Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Auch der Prenzlauer Berger Wolfgang Thierse kommt vor – obwohl er im Osten groß wurde. In dem betreffenden Text geht es auch eher um die vier Westdeutschen, die sich in der SPD um seine politische Nachfolge bewarben.
Somit handelt „Zweite Heimat“ hauptsächlich von den 2 324 569 Menschen, die in den Jahren zwischen 1989 und 2011 von West nach Ost übersiedelten. Das waren fast halb so viele wie in die Gegenrichtung. Und vielen habe dieser Schritt, wie Decker betont, beträchtliche Mühen bereitet. Er spricht von Integrationsschwierigkeiten und Fremdheitsgefühlen, von Gegensätzen in der Weltwahrnehmung und im Kommunikationsverhalten. Natürlich auch von westdeutscher Dominanz. Nein, das „Ost-West-Ding“ sei keineswegs aus der Welt, erklärt er in einem für seine Weißwurst und den Leberkäs bekannten Restaurant unweit des Kollwitzplatzes.
Handschlag ins Leere
Er selbst hat das so erlebt, als er 1992 sein Volontariat bei der Mitteldeutschen Zeitung in Sachsen-Anhalt antrat, und auch später noch, als Redakteur in Wittenberg und Halle. Ein Text seines Buches erzählt deshalb von seinen eigenen Erfahrungen: Von den zwei Telefonleitungen, die er sich damals mit sechs seiner Kollegen teilen musste, vom Kohlegeruch im Winter. Und von kulturellen Irritationen: Während Decker es sich nach und nach angewöhnte, seinen Kollegen zur Begrüßung die Hand zu geben, wie es in der DDR üblich gewesen sein soll, hörten jene, die im Osten groß geworden waren und nun gen Westen aufbrachen, allmählich damit auf.
Decker griff also ins Leere – und spürte, wie durch solche Erlebnisse seine Identität in Bewegung kam. Seine westdeutschen Freunde bemitleideten ihn dafür, dass er nun in der „Ostzone“, in „Dunkeldeutschland“ lebte. Allerdings habe sich dafür, was dort tatsächlich anders war, niemand wirklich interessiert. „Wenn man anfing zu erzählen, hat nach fünf Minuten keiner mehr richtig zugehört,“ sagt er. Dieses Desinteresse an deutsch-deutschen Befindlichkeiten attestiert Decker der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft bis heute. Wenn etwa im Bundestag über den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit diskutiert wird, sind von insgesamt 12 Rednern 11 in Ostdeutschland geboren. Und 25 Jahre nach der Wende ist rund ein Fünftel der Westdeutschen noch nicht ein einziges Mal in Ostdeutschland gewesen.
Mehr als ein Umzug
Für Decker steht deshalb fest: Wer aus dem Breisgau in die Uckermark oder aus Niedersachsen nach Sachsen kommt, zieht nicht einfach um. Decker spricht, bewusst provokativ, von Migration aus einem anderen Land. Zwar werde dies vielfach bestritten, „außer von denen, die diese Erfahrung selbst gemacht haben“. Und natürlich sei es fraglos ein weitaus größerer Schritt, aus einem Land wie beispielsweise der Türkei nach Deutschland zu kommen. Dennoch gelte es anzuerkennen, dass eben auch die West-Ost-Migranten eine teilweise andere Geschichte, Sprache und Kultur und Lebensart, andere kollektiven Erinnerungen mitbringen. Das ist historisch belegt, deckt sich aber auch mit Deckers persönlichen Erfahrungen. Das Klischee, wonach die Menschen in Ostdeutschland sozialer seien, habe etwa durchaus einen wahren Kern, findet er. Nun, er muss es wissen – schließlich hat er in eine ostdeutsche Familie eingeheiratet.
Von allen Texten aus seinem Buch mag Decker übrigens das Rainald-Grebe-Porträt am liebsten. Bekanntlich hat dieser aus Frechen bei Köln stammende Kabarettist einige boshafte Lieder über Prenzlauer Berg, über Thüringen und über Brandenburg geschrieben. Mit Liedzeilen wie „In Berlin kann man so viel erleben/ In Brandenburg soll es wieder Wölfe geben“ machte er sich bei Gastspielen im Brandenburgischen unbeliebt, auch sein Prenzlauer Berg-Lied findet nicht jeder im Kiez witzig.
„Das Rockigste, was dieses Land zu bieten hatte“
Decker schon. Vielleicht liegt es ja daran, dass er sich in Grebes Biografie auch selbst ein Stückweit wiederfindet. Er zeigt Grebe als einen Abenteurer, der, kaum erwachsen, dem bürgerlichen Milieu der alten Bundesrepublik entfloh, in dem er aufgewachsen war und das ihn zutiefst anwiderte. Die implodierende DDR unmittelbar nach der Wende muss für Grebe ein unbekannter Sehnsuchtsort gewesen sein, der den damals 18Jährigen magisch anzog. „Ich wollte den Osten kennenlernen. Das war das Rockigste, was dieses Land zu bieten hatte.“
Sicher: Viele gingen aus beruflichen Gründen, andere der Liebe wegen in den Osten. Doch für so manchen BRD-müden Westdeutschen, der in den anarchischen Nachwendeverhältnissen das Abenteuer, vielleicht auch das ein oder andere brauchbare Relikt einer gescheiterten gesellschaftlichen Utopie suchte, ist Grebes romantisierende, aber eben auch sehr emphatische Haltung gewiss nicht untypisch.
Liebeserklärungen an den Osten
Grebe jedenfalls lebt heute in Prenzlauer Berg und Brandenburg und findet sich selbst völlig „verostet“. Markus Decker sagt, das stimmt. In Grebes Songtexten manifestiert sich für ihn deshalb keineswegs nur die hämische Herablassung eines Metropolenbewohners gegenüber der tristen Provinz. Sondern Mitgefühl. Womöglich seien Grebes Lieder also heimliche Liebeserklärungen an den Osten – auch wenn das bislang die wenigsten gemerkt hätten.
Er selbst jedenfalls kommt vom Osten offenbar auch nicht mehr so recht los, seit nunmehr 22 Jahren. Als Parlamentskorrespondent für die Mitteldeutsche Zeitung, den Kölner Stadt-Anzeiger, die Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau ist Decker hauptsächlich für Ost-Themen zuständig. Sein Wohnkiez allerdings ist inzwischen in erster Linie westlich geprägt. Und ja, er fühlt sich hier manchmal als Gentrifizierungsgewinnler. „Man wird persönlich zugeordnet. Schubladen gehen auf, so bald man sagt, dass man im Kollwitzkiez lebt.“ Trotzdem: Markus Decker wird bleiben, wie viele der von ihm Porträtierten. Er findet es eben einfach schön hier, im Osten. „Schön schwierig.“
Markus Decker: Zweite Heimat. Westdeutsche im Osten. Christoph Links Verlag 2014, 240 Seiten, 16,90 Euro.