Vor zwölf Jahren gehörten ihm eine Eventagentur und ein Hotel. Heute trinkt Wilfried Dosenbier am Helmholtzplatz. Er ist glücklich. Und kämpft dafür, dass seine Freunde eine Toilette bekommen. Eine Reportage.
Am 11. September 2001 stand Wilfried sehr früh auf, er weiß es, als wäre es gestern gewesen. Um die Mittagszeit war es dann soweit: Wilfried war bei Gericht in seiner Heimatstadt Köln und trug sein bisheriges Lebenswerk zu Grabe, er war damals gerade 50 Jahre alt. Eigentlich war es nur der erste Spatenstich zum Grab: Wilfried meldete die erste seiner Firmen insolvent, die anderen folgten kurze Zeit später. Sein Leben krachte zusammen, wie am gleichen Tag die Türme in New York. „Das Datum habe ich mir gut gemerkt“, sagt er. Fast auf den Tag zwölf Jahre später, kümmern Wilfried Bilanzen und Insolvenzen wenig. Er freut sich, dass er hier am Helmholtzplatz sitzt. Heute ganz besonders, denn ein Späti um die Ecke verkloppt gerade sein Büchsenbier zum Sonderpreis. 50 Cent die Büchse. Davon hat er eines in der Hand.
Ein paar muss Wilfried schon getrunken haben, man hört und sieht es zwar nicht, aber sein Atem verrät es. Wilfried will nicht, dass viel Aufhebens um ihn gemacht wird, deshalb bittet er, dass sein Nachname, dem ein Adels-„von“ vorangestellt ist, nicht genannt wird. Dass er Mitte der 80er eine der größten Eventagenturen Deutschlands führte, ein Hotel in Österreich besaß, darum soll es nicht gehen, ginge es nach ihm. Tatsächlich ist man geneigt, das lieber gar nicht erst aufzuschreiben, es klingt zu sehr nach dem Hirngespinst eines Fantasten: Früher reicher Firmenchef und Hobby-Hotelier, heute einer der Trinker am Helmholtzplatz. Doch es stimmt. Im Netz findet sich eine alte Firmenbroschüre, Wilfried trägt einen sehr teuren Anzug. Und ja, er hat offenbar BWL und später Philosophie studiert.„Ich vermisse nichts“, sagt er.
Der Platz ist das verlängerte Wohnzimmer
Das Treffen mit Wilfried ist ein Glückstreffer. Zuvor erfuhr man, dass es Probleme mit der Hygiene am Helmholtzplatz gibt, dort, wo sich die Leute treffen und trinken, sofern es die Jahreszeit zulässt. Ein Wilfried von, hieß es, kämpfe dafür, dass die Toilette am Platzhaus wieder geöffnet wird, damit nicht weiter in die Büsche gepinkelt wird. Wilfried, ein engagierter Anwohner, so schien es. Am Ende des Telefonats, mehr aus Versehen, wird klar, dass er mittendrin ist und vor allem ganz schön was hinter sich hat. Man trifft sich also.
2003, Wilfried war kurz zuvor mit seiner Freundin nach Berlin gezogen, kamen beide das erste Mal zum Helmholtzplatz. Drei, vier Mal setzten sie sich auf eine Bank, und schon wurden sie angesprochen, erinnert er sich. Wilfried wollte damals alles hinter sich lassen, „unbeschwert vor mich hinleben“, der Platz war dafür ideal. Kurze Zeit später saß er regelmäßig hier, manchmal täglich, manchmal seltener. Seine Wohnung hatte er in der Senefelder Straße, auch heute wohnt er dort noch mit seiner Freundin. „Aber mein verlängertes Wohnzimmer war von Anfang an hier.“ Wilfried spricht oft vom Wohnzimmer am Helmholtzplatz, was irritiert, weil man unwillkürlich an die Bar in der Lettestraße denkt. Aber das ist ja eine ganz andere Welt. Auch wenn dort sicher genauso viel getrunken wird wie hier auf dem Platz, wie Wilfried sagt.
Lars entwarf früher Kuhställe in Bayern, heute sitzt er am Helmi
Die ersten Jahre am Helmholtzplatz waren hart. Viel Gewalt, sehr viel mehr Alkohol als heute, sagt Wilfried. Das gefiel ihm nicht, schon in seiner Firma liebte er es, „wenn es schön ist und alle Spaß haben“. Er tat sich zusammen mit jenen, die ebenfalls Frieden wollten, bildete Allianzen. Schließlich wurden die Unverbesserlichen isoliert. Setzten sie sich, standen die anderen auf, es gab eine Front. Irgendwann, erzählt er, seien die Unerwünschten dann weggeblieben. Heute gebe es zwar immer noch Reibereien, aber keine schlimmen Schlägereien. „Die Pazifizierung des Platzes erfolgte nicht mit Gewalt, sondern mit sozialem Denken.“ Heute ist Wilfried so etwas wie die gute Seele der Gemeinschaft, er hilft, wenn es Probleme mit der Behördenkorrespondenz gibt oder jemand Unterstützung beim Verfassen eines Briefes braucht.
Inzwischen hat sich Lars dazu gesetzt. Lars ist zehn Jahre jünger als Wilfried, also fast 50, und wie er zugezogener Bayer. Die meisten hier, berichten sie, kommen von sonst woher, jeder fünfte vielleicht aus Prenzlauer Berg, schätzt Wilfried. Auch Lars ging es vor ein paar Jahren wirtschaftlich mal besser als heute. Staatlich geprüfter Bautechniker sei er, ein Planungsbüro für Kuhställe habe er bis 2002 betrieben. Ein halbes Jahr habe es keine Aufträge gegeben – die Maul- und Klauenseuche habe für eine Pause bei Stallneubauten geführt –, und schon sei die Firma pleite gegangen. Vor neun Jahren kam Lars nach Berlin, seit sechs Jahren verbringt er die Tage am Helmholtzplatz. Seine Wohnung hat er in Weißensee. „Berlin ist die coolste Stadt der Welt“, sagt er.
Wie ein Tourist in Paris
Mittlerweile läuft im Hintergrund Harcore-Techno, jemand hat an den Tischtennisplatten die Anlage angeschmissen. Ein Mann mit einem teuren Rennrad kommt angeheizt, er begrüßt Freunde, die auf den Steinen des Halbrundes am Basketballplatz sitzen, danach geht er zu den Tischtennisspielern. Der habe ein Faible für Kräuter, berichtet Wilfried. Fährt durch die Stadt und sammelt, was er so findet. Daraus werden Tinkturen, die er verteilt, neulich habe das gut gewirkt bei einer Schuppenflechte, die Wilfried plagte. Später wird ein Mann kommen, der sich schon mal fast totgesoffen haben soll und heute ein ausgezeichneter Hobby-Fotograf sei. Dann ein Profi-Schlagzeuger, der dauernd auf Tournee ist, und alle paar Monate mal kommt. Ein paar Meter weiter übt einer, Einrad zu fahren. Es klappt leidlich.
Wilfried weiß, dass man das hier nicht zu sehr romantisieren soll. „Das ist keine Pennerglückidylle“, sagt er. „Aber es sind auch nicht alle einfach nur Alkoholiker, die sich die Birne wegballern. Die haben eine Geschichte.“ Er spricht nun wieder vom „Wohnzimmer“, das nicht umsonst am Helmholtzplatz angesiedelt sei. „Es ist eine schöne friedliche Gegend“. Er mag weder Neukölln noch den Wedding so richtig, zu unruhig. Charlottenburg, wo er auch mal kurz wohnte, sei ihm hingegen zu spießig, genau wie der Kollwitzplatz übrigens. Im Helmholtzkiez gebe es das Leben, das er und seine Freunde suchten, und sie seien gerne Teil davon. Abends, berichtet Wilfried, schaut er gerne in die Schaufenster der anliegenden Geschäfte, auch wenn er nichts kaufen kann. „Das ist einfach ein schönes Gefühl, dass es das hier alles gibt.“ Manchmal fühle er sich wie ein Tourist, der in Paris das Straßenleben genießt. „Und zwar mit einem Bier in der Hand“.
Das fehlende Klo liefert den Gegnern des Treffpunkts neue Argumente
Mit Nachbarn gebe es kaum Probleme, meint Wilfried, auch nicht mit den Eltern, die ihre Kinder auf dem benachbarten Spielplatz toben lassen. Nur einige der direkten Anwohner würden sich immer wieder beschweren, wenn es abends zu laut sei. „Immer die gleichen“, vermutet er. Denen gehe es darum, ihn und seine Freunde dauerhaft vom Platz wegzubekommen. „Aber Vertreiben ist nicht.“ Und deshalb, zurück zur Ausgangsfrage, sei es so wichtig, dass die Sache mit der Toilette geklärt wird.
Seit etwa einem Jahr pressiert es: Da nämlich wurde die Toilette im Platzhaus des Helmholtzplatzes geschlossen, jetzt steht nur noch eine City-Toilette zur Verfügung. Im Gegensatz zu dem alten Klo ist diese sauber, nach jedem Geschäft wird sie automatisch desinfiziert, und außerdem läuft dem Anlass angemessene Dudelmusik. 50 Cent kostet eine Sitzung – viel Geld für die Leute hier. Sie gehen deswegen woanders hin, man riecht es, und Wilfried findet das schlimm. „Aber was sollen sie sonst machen?“
Das fehlende Klo wird zur existenziellen Bedrohung. Denn es könnte dazu führen, dass der Ärger der Anwohner über die Leute am Platz größer wird. „Ist der soziale Frieden am Helmholtzplatz gefährdet“, fragte deswegen kürzlich der Bezirksverordnete Klaus Mindrup (SPD) das Bezirksamt, eine Antwort steht noch aus. Wilfried, der Mindrup auf das Thema aufmerksam machte, kennt die Antwort: Ja, der soziale Frieden, sein Projekt, ist gefährdet. Und kritische Anwohner bekämen neue Argumente, um gegen den Treffpunkt am Platz vorzugehen.
Die Reinigung übernähmen sie selbst
Zusammen mit ein paar anderen vom Platz will Wilfried Lokalpolitikern nun ein Angebot machen. Die Toilette am Platzhaus könnte wieder eröffnet werden, und für maximal dreihundert Euro pro Jahr könnten diejenigen, die sie hauptsächlich nutzen, mit der Reinigung beauftragt werden. „Nützlich wäre ein Kärcher, um die Toilette täglich zu reinigen.“ Nachts bliebe sie geschlossen. Alle würden profitieren, ist Wilfried überzeugt. Der Platz wäre wieder sauberer, „und ein paar Leute vom Platz könnten sich ein paar Euro verdienen“. Er trommelt jetzt auch bei anderen Politikern vor Ort für seinen Plan. „Das ist ja kein Parteiending. Es geht einfach um den Kiez.“ Wilfried hat sicher schon größere Dinger gedreht. Aber die Toilette am Helmholtzplatz, sie liegt ihm wirklich am Herzen. Er will, dass das was wird.
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