Wären wir Fledermäuse

von Juliane Schader 12. Juni 2013

„Fotografieren Sie nicht mich, fotografieren Sie lieber die Bäume. Alte Bäume und seltene Fledermäuse, nur damit kann man noch einen Abriss verhindern“, sagt Jürgen Freytag. Seit 1969 wohnt er in der Belforter Straße. Nun soll seine Wohnung einem Neubau weichen. 

Es ist morgens kurz vor neun und Jürgen Freytag serviert in der guten Stube Schokoladenpralinen. Nein, ein Wohnzimmer ist dieser Raum mit den Strukturtapeten, der mit Büchern akkurat bestellten Schrankwand und der großen Auswahl sorgfältig eingeräumter Klassik-CDs definitiv nicht. Wo weiße Spitzengardinen vor den Fenstern hängen und ein dicker Teppich das Linoleum verdeckt, dort ist eine gute Stube.

Seit 1969 schon lebt Freytag gemeinsam mit seiner Frau hier in zweieinhalb Zimmern im ersten Stock des 60er-Jahre-Baus in der Belforter Straße. Hier haben die beiden ihre Tochter großgezogen, von hier ist Freytag zu Fuß zu seinem Job in der Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Uni gelaufen, hier hat er dem Sozialismus beim Aufbau und beim Zerfall zugesehen.

Er hat hier gewohnt, als die Eigentümer-Genossenschaft in den 90er Jahren pleite ging, als erst ausländische Fondsgesellschaften die Wohnanlage kauften und später der Prenzlauer Berger Immobilienentwickler Econcept. Weil dieser auf dem Grundstück einen Neubauriegel errichten will, müssen 20 der 110 bestehenden Wohnungen der Anlage weichen. Die der Familie Freytag gehört auch dazu. „Wenn wir eine seltene Fledermaus im Hof wohnen hätten, könnten wir diese Pläne vielleicht noch aufhalten. Aber da es nur um alte Menschen geht, wird das schwierig“, meint Freytag.

 

Ein Sechser im Lotto

 

Bevor der heute 72-Jährige in die Belforter Straße zog, hat er mit Frau und Kind in einem Hinterhaus in der Danziger Straße gewohnt. Ein Zimmer, Ofenheizung, Klo auf der halben Treppe – typisches Prenzlauer Berger Altbauleben zu der Zeit. Eigentlich stand er ganz hinten auf der Anwärterliste der Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft (AWG) der Humboldt-Universität. Doch weil die Listenplätze vor ihm viel lieber nach Marzahn zogen, wo die Wohnungen nicht nur ein innenliegendes Bad, sondern auch Zentralheizung hatten, fanden Freytags Platz in der Belforter. „Für uns war das wie ein Sechser im Lotto“, meint er heute.

Als die Familie einzog, waren die Häuser gerade mal zehn Jahre alt. 1960 waren sie auf einer großen Bombenbrache errichtet worden. Früher war auf dem Geländer unter anderem eine Weißbierbrauerei untergebracht, deren Gewölbekeller bis heute nicht abgetragen, sondern nur verfüllt wurden. „Später hat sich die Füllung gesenkt, und ich kann mich noch erinnern, dass der ein oder andere seinen alten Kachelofen in den entstehenden Löchern entsorgt hat“, erzählt Freytag.

 

Sicher wie das Stadtarchiv

 

Heute sieht man dem kleinen Park mit den alten Bäumen im Innenhof der Häuser diese Geschichte zwar nicht mehr an. Wenn in Kürze jedoch die Arbeiten für eine Tiefgarage und den Neubau losgehen, dürfte die Bagger im Untergrund mehr als Erde und Sand erwarten. „Die Statiker sagen zwar, für die bestehenden Häuser gibt es keine Gefahr“, erzählt Freytag. „Aber das haben sie beim Kölner Stadtarchiv auch gesagt.“

Acht von zehn Wohnungen sind im Aufgang der Freytags noch bewohnt. Im Nachbarhaus sind es nur noch drei. Damit der Investor wie geplant im April nächsten Jahres mit dem Bau beginnen kann, müssen alle baldmöglichst ausziehen. Was das für Freytags bedeutet, wissen sie bislang noch nicht. „Wir warten auf ein Angebot“, sagt er.

Eigentlich möchte er die gewohnte Umgebung, die liebgewonnene Nachbarschaft nicht aufgeben. Ob ein Umzug in eine andere Wohnung innerhalb der Anlage sich angesichts der anstehenden Bauarbeiten lohne, da seien seine Frau und er sich noch nicht einig. „Ich habe zwei Kernsanierungen mitgemacht. Ob ich mir das noch mal antun will?“ Auf der anderen Seite erwarten ihn auf dem freien Markt des Kollwitzkiezes Mieten, die locker doppelt so teuer sind wie bisher. „Es ist belastend“, fasst er die Situation zusammen.

 

Architektur aus drei Epochen

 

Als vor zwei Jahren die Bezirksverordneten von Pankow die komplette Anlage für erhaltenswert erklärten und damit den Neubauplänen vorerst einen Riegel vorschoben, da hatten sie auch Altbewohner wie Jürgen Freytag im Hinterkopf. In der vergangenen Woche mussten sie ihren Entschluss jedoch rückgängig machen; wohl, weil im Amt unsauber gearbeitet worden war. Die Schuldfrage möchte Freytag jedoch lieber nicht beantworten.

Statt dessen verweist er noch einmal darauf, wie einzigartig das komplette Areal im Kontext seiner Umgebung doch sei. „Wir haben hier auf die Architektur von drei Epochen auf einem Fleck: Die Altbauten der Kaiserzeit, unsere Anlage als einer der ersten, Bauhausinspirierten Versuche der Wohnraumschaffung in der DDR und die Moderne in Form des Kollebelle“, meint er. Warum das nicht erhaltenswert sei, könne er nicht verstehen.

 

 

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