Stadtbüchereien gelten manchmal als verstaubt. Dabei befinden sie sich längst in einem radikalen Neuerfindungsprozess – auch in Pankow.
Heute ist der Foodsharing-Kühlschrank neben den Buchregalen im Erdgeschoss der Heinrich-Böll-Bibliothek mit Wraps befüllt, gestern waren es Bananen. Wer weiß, welche Lebensmittel morgen an der Servicetheke der Pankower Bezirkszentralbibliothek an der Greifswalder Straße gespendet werden. Im Obergeschoss kann man am Bienenautomaten Saatgutkapseln für 50 Cent ziehen. Daneben sammeln sich Kinder für das Bilderbuchkino, bei dem während des Vorlesens Buchillustrationen projiziert werden.
Die etwas Älteren wiederum können sich donnerstags in 3D-Technik schulen lassen; und auch das Erklär- und Repair-Café findet dann statt, bei dem man Anleitung für Kleinreparaturen aller Art bekommen kann. Mittwochs nach Betriebsende um 19 Uhr nutzt hingegen ein Chor die Räume zum Proben, als Gegenleistung gibt dieser einmal im Jahr ein Konzert. Auch für Ausstellungen ist Platz zwischen den Regalen. Regelmäßig werden in der „Böll“ auch Sozialberatungen und Sprachkurse angeboten. Zum Beispiel bringen hier syrische Menschen anderen Syrer*innen Deutsch bei.
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Bibliotheken als Orte der Begegnung
Beim Wort „Stadtbücherei“ denken manche noch immer an Staub und abgestandene Luft, an klösterliche Stille, Eselsohren und Schmutzflecken auf ausbleichendem Papier. Dabei haben Bibliotheken vielerorts längst begonnen, ihre Aufgaben und damit sich selbst komplett neu zu erfinden: Als klassische Buch-Verleihstationen begreifen sich die Bibliotheken in Pankow kaum noch, sondern als Orte der Begegnung, der Teilhabe und des Austauschs, die zudem auf Problemlagen und Bedürfnisse ihrer Umgebungen reagieren.
Tim Schumann, der die „Böll“ seit 2018 leitet, spricht darum auch von einer „sozialen Infrastruktur“. Tatsächlich lautet ein übergeordnetes Motto der Pankower Büchereien: „Die Bibliothek ist mehr als ein Gebäude, sie ist eine offene Plattform für den ganzen Kiez.“ Und im Berliner Bibliotheksentwicklungsplan von 2018 heißt es: „Bibliotheken sind Knotenpunkte der hybriden Informations- und Wissensversorgung, Zentren der kulturellen Bildung und der kreativen Arbeit, Orte der nachbarschaftlichen Begegnungen und Foren der Stadtgesellschaft.“
Von Dachgärten und Kühlungszonen
Tatsächlich legen die Bibliotheken große Umtriebigkeit an den Tag, um diese Formeln mit Leben zu füllen. So kann jede*r die Böll-Bibliothek, die Janusz-Korczak-Bibliothek in Alt-Pankow, die Bibliothek Karow und die Kurt-Tucholsky-Kinderbibliothek im Bötzowkiez inzwischen auch sonntags als „Open Libraries“ besuchen. Servicepersonal arbeitet an diesen Tagen nicht. Louise Bourdet-Decultot, Leiterin der Bibliothek am Wasserturm, plant zudem bald von Montag bis Samstag zwischen 8 und 22 Uhr zu öffnen.
Mit ihren verlängerten Zeiten engagieren sich die Büchereien außerdem im Berliner „Netzwerk der Wärme“, das letzten Winter wegen der stark gestiegenen Heizkosten gestartet wurde und auch jetzt wieder angelaufen ist. Zweck ist es, beheizte öffentliche Räume so lange wie möglich zugänglich zu machen.
Aber auch jenseits solcher Aktionen geben sich die Büchereien Mühe, ihre Einrichtungen so umzugestalten, dass sie zum Verweilen einladen – ob nun mit Lern- und Arbeitsräumen, Lesecafés, Spiel- und Gaming-Zonen, oder auch als „öffentliche Wohnzimmer“. Manchmal geht das schon mit scheinbar simplen Eingriffen: Zum Beispiel können Besucher*innen sich in der Bibliothek am Wasserturm kostenlos Kaffee, Tee oder andere Heißgetränke zapfen.
Doch die Bibliotheken haben viel größere Pläne: „Wir sind gerade dabei, unseren Vermieter und unsere Verwaltung von der Notwendigkeit einer völligen Renovierung zu überzeugen, um den Raum den Bedarfen des 21. Jahrhunderts anzupassen“, erzählt Schumann.
„Ein Aspekt ist ein begehbarer Dachgarten auf der ‚Böll‘, den sich zwei Mädchen gewünscht hatten, die 2020 mit einer Unterschriftenliste zu uns kamen, auf der sie mehrere hundert Namen gesammelt hatten. Wir haben das dankbar aufgenommen und die Liste in der Bibliothek ausgelegt, wodurch wir mit Architekten ins Gespräch gekommen sind. Aber das ist nur der Einstieg. Zum Beispiel haben wir Kellerräume, in denen man Kühlungszonen für Hitzesommer anbieten könnte. Auch ein Café müsste dort hinein, und ein kleinerer Kellerraum könnte für Bandproben genutzt werden.“
Weiterbildung im „MediaMakerSpace“
Dass gerade in der „Böll“ über Dachgarten und Kühlungsräume nachgedacht wird, ist dabei kein Zufall. Denn die Bibliothek hat einen Schwerpunkt auf Klima und Nachhaltigkeit und setzt momentan als erste Bücherei weltweit eine Gemeinwohlbilanzierung um; 2020 hat sie bereits die erste eigene CO2-Bilanz erstellt. Damit ist sie sogar Vorreiter für den Bezirk selbst geworden, der sich laut BVV-Beschluss nun seinerseits gemeinwohlbilanzieren lassen soll.
Aber auch hinsichtlich des zweiten Bibliothekschwerpunkts – Technologie und digitale Medien – beweist das Team der „Böll“ Innovationskraft. Seit letztem Jahr gibt es hier den „MediaMakerSpace“, in dem sich Interessierte kostenlos in der Produktion digitaler Formate weiterbilden können. Derzeit laufen die zwei Workshopreihen „Professionelles Sprechen“ und „Medienkompetenz für Content-Producer“. Aber auch sonst werden alle möglichen Schulungen rund um Podcast, Foto und Video angeboten.
Die Bibliothek im digitalen Zeitalter
Dass so viel Umbruch auch auf Widerstände stößt, verwundert indes nicht. Immer wieder stören sich traditionell gestimmte Nutzer*innen an den mittlerweile ungewohnt wimmelnden Bibliotheken – zumal diese auch Buchbestände deutlich reduziert haben oder es planen.
„Meine Idee ist, dass wir uns komplett von den Medien im hinteren Raum trennen, um einen großen Gruppenraum zu schaffen“, sagt etwa Bourdet-Decultot. Allerdings wird das mehr als ausgeglichen durch ein umfassendes Digitalangebot. Denn zahllose Tageszeitungen, Zeitschriften und ebooks lassen sich mittlerweile online lesen. „Wir sind weiterhin Orte für Information, Wissen und Wissensaustausch. Wir merken aber, dass das im digitalen Zeitalter immer weniger nur über Bücher nachgefragt wird“, versichert Schumann.
Doch auch für Mitarbeitende sind diese Entwicklungen herausfordernd. Immerhin hat sich das Berufsbild „Bibliothekar*in“ selbst rasant verändert und ist auch nicht mehr notwendig an die klassische Ausbildung gebunden. So hat ein ehemaliger DJ den „MediaMakerSpace“ der Böll-Bibliothek aufgebaut. Danilo Vetter, der die Gesamtleitung der Pankower Bibliotheken seit 2016 innehat, ist überdies stark um eine diversitätsorientierte Öffnung der Belegschaft bemüht: Inzwischen sprechen die Mitarbeitenden in den Büchereien auch Französisch, Spanisch, Türkisch oder Farsi.
Der größte Widerstand besteht jedoch nach wie vor in dem verstaubten Image, das ihnen trotz allem noch anhaftet. „Auch wenn wir versuchen, viel über Social Media zu arbeiten, ist für uns die Mundpropaganda fast am effektivsten“, sagt Schumann. Anfangs sei der MakerSpace noch verwaist gewesen. Aber irgendwann sei es dann richtig losgegangen.