Bau

Einstürzende Altbauten

von Sebastian Kirsch 27. Oktober 2023

Seit Jahren leben die Mieter*innen der Schönhauser Allee 69 in einer Bauruine. Wie konnte es so weit kommen? Chronologie eines Skandals.


Ein Innenhof voller Trümmer, Schutt und Geröll; klaffende Löcher im Mauerwerk, wo einst Türen waren; ein ganzes Treppenhaus ohne Wand: Die Aufnahmen erinnern an jene Berliner Ruinenlandschaften, die man von Fotos aus der unmittelbaren Nachkriegszeit kennt. Dass sie aus dem Jahr 2023 stammen und ein Wohnhaus in Prenzlauer Berg zeigen, in dem derzeit immerhin noch acht Mietparteien leben, ist kaum zu glauben. Und doch ist es so. „Wo ich wohne“, heißt die Fotoserie, mit der die Mieter*innen im Netz seit einiger Zeit ihre schier unfassbare Wohnsituation dokumentieren, die sie nun schon jahrelang aushalten.

Schönhauser Allee 69: Das Haus, um das es geht, hat schon früher als Musterbeispiel dafür gedient, was auf dem Berliner Mietmarkt mittlerweile schiefläuft. Selbst die New York Times hat 2019 über den Fall geschrieben, auch die Prenzlauer Berg Nachrichten haben bereits über das Haus berichtet. Dabei war damals noch gar nicht abzusehen, was noch alles auf die Bewohner*innen zukommen sollte. Trotzdem muss man, um es zu erfassen, noch einmal bei der Vorgeschichte ansetzen.___STEADY_PAYWALL___

Die beginnt 2016, als die 18 Wohn- und zwei Gewerbeeinheiten des Hauses noch sämtlich an Langzeitmieter*innen vergeben sind. Im Seitenflügel befinden sich Ateliers, teilweise schon seit DDR-Zeiten; das Vorderhaus beherbergt zwei Geschäfte. Im Juli des Jahres verkauft die damalige Eigentümerin das Haus an zwei Investoren, Rom Zalel und Itai Amir.

Die sind schon 2016 in der Immobilienwelt gut bekannt, und heute wohl vorwiegend berüchtigt: Seit Jahren erscheinen sie an prominenten Stellen eines kaum nachvollziehbaren Geflechts von GmbHs und Briefkastenfirmen, die deutschlandweit Wohnhäuser und Hotels verwerten.

Vor allem operieren sie im direkten Kontext des Unternehmens „Grand City“ Properties, das – Stand Dezember 2022 – allein in Berlin rund 8500 Wohnungen hält, selbst aber wieder nur eine Tochtergesellschaft von „Aroundtown“ ist, dem drittgrößten Immobilienkonzern Europas. Unter anderem fungiert Amir als Geschäftsführer für Häuser in der Berg-, der Brunnen-, der Buchholzer/Greifenhagener und der Krausnickstraße in Prenzlauer Berg und Mitte; Zalel war von 2015 bis 2018 außerdem Geschäftsführer des ewig leerstehenden Hauses Schönhauser Allee 132.

 

Mietsteigerungen von bis zu 250 Prozent

Was 2016 in der Schönhauser Allee 69 geschieht, ist denn auch das Übliche: Sofort nach Kauf wird die Schönhauser Allee 69 GmbH gegründet, die im Besitz der Brune Investment AG ist (Geschäftsführer Amir). Diese hält fünfzig Prozent des Hauses, die andere Hälfte geht an eine Briefkastenfirma mit Sitz in Zypern. 2017 folgt eine erste Mieterhöhung; die Nutzer*innen der vier Ateliers erhalten eine Kündigung.

2018 werden die Bewohner*innen dann über geplante Sanierungsmaßnahmen informiert, zusammen mit den bevorstehenden Mieterhöhungen: Bis zu 19,50 Euro soll der Quadratmeterpreis nach Abschluss der Bauarbeiten betragen, eine Steigerung von bis zu 250 Prozent. Das Schreiben trifft am 27.12.2018 ein, vier Tage vor Inkrafttreten des neuen Mietrechtsanpassungsgesetz, mit dem lediglich Mieterhöhungen von zwei Euro pro Quadratmeter zulässig gewesen wären.

Seit Jahren leben die Bewohner*innen auf einer Baustelle. / Foto: Mieter*innen der Schönhauser Allee 69

 

Nun ist das Haus in der Tat stark sanierungsbedürftig, wie die Mieter*innen selbst am besten wissen. Nur: Was hier geplant wird, ist ein offensichtlicher Luxusumbau, unter anderem mit neuem Dachgeschoss, fünfstöckigem ‚Townhouse‘ im Hof und Außenfahrstühlen. Trotzdem segnet das Bauamt Pankow unter dem damaligen Stadtrat Vollrad Kuhn (Grüne) fast alle Pläne ab. Und das, obwohl das Ende vom Lied klar ist: Nachdem sie sich den Luxusumbau von den Mieter*innen haben bezahlen lassen, wollen die Investoren die Miet- in Eigentumswohnungen umwandeln und teuer verkaufen.

Die Umwandlung wird 2019 genehmigt. Dass das Haus im Milieuschutzgebiet liegt, spielt dabei keine Rolle: Es verpflichtet Zalel und Amir lediglich dazu, innerhalb von zwölf Jahren Kündigungsschutz das Vorkaufsrecht der Mieter*innen zu wahren. Und auch das zweite Instrument versagt, das damals noch häufig zum Mieter*innenschutz eingesetzt wird: Das Vorkaufsrecht des Bezirks. „Laut Vollrad Kuhn ist das in unserem Fall nicht gemacht worden, weil er es lediglich als Handlungsempfehlung angesehen hat“, erzählt eine Mieterin. Sie will als Sprecherin der Hausgemeinschaft namenlos bleiben.

 

Kampf ums Bleiben

Allerdings beginnt nun auch, womit die Investoren nicht in diesem Umfang gerechnet haben dürften: Die Mieter*innen schließen sich zusammen und beginnen, um ihr Zuhause zu kämpfen. Mit erstem Erfolg. Im Mai 2019 lässt die Bauaufsicht die Arbeiten zeitweilig stoppen, die bereits ungenehmigt angefangen und im Haus für erstes Chaos gesorgt haben, unter anderem wegen des überraschenden Abrisses sämtlicher Kachelöfen in den leerstehenden Ateliers.

Aber auch die Gegenseite reagiert. Im November 2019 werden kurzerhand alle zwölf Bäume im Hof gefällt, um dort einige Monate später ein meterhohes Baugerüst zu errichten; angeblich wegen notwendiger Dachreparaturen, die nichts mit der Sanierung zu tun haben und nur vier Wochen dauern sollen. Gleichzeitig werden vor dem Haus allerdings baustellenbedingte Parkverbotsschilder für ein ganzes Jahr aufgestellt. Das Bauamt Pankow wiederum erklärt sich auf Nachfrage für nicht zuständig. Und spätestens ab jetzt wird es schwierig, das Geschehen überhaupt noch chronologisch wiederzugeben. Denn dafür geschieht zu viel, und zu viel geschieht gleichzeitig.

Auf der einen Seite erzielen die Mieter*innen einen weiteren Erfolg: Nach langen Verhandlungen und mit anwaltlicher Unterstützung setzen sie eine Modernisierungsvereinbarung durch, mit der die utopisch hohe Modernisierungsumlage auf einen Bruchteil des ursprünglich Geforderten gedrückt wird. Außerdem sollen die Mieten nach Abschluss der Bauarbeiten zwar steigen, aber angepasst an den Mietspiegel.

Überall im Haus wurden Wände aufgerissen. Bis heute sind sie offen. / Foto: Mieter*innen der Schönhauser Allee 69

 

„Man muss das deutlich sagen: Wir haben das nur deswegen geschafft, weil wir geschlossen aufgetreten sind und ausschließlich zusammen verhandelt haben“, erklärt die Sprecherin. Mindestens zwölf Jahre Bleibezeit sind damit erst einmal gewonnen – zumindest in der Theorie. In der Praxis sieht das Ganze leider anders aus. Denn am Haus hat mittlerweile jenes heilloses Baustellenchaos eingesetzt, das bis dato anhält und es sukzessive in die heutige Ruinenlandschaft verwandelt.

 

Eine unfassbare Mischung aus Unvermögen und Gleichgültigkeit

Schon die Instandsetzung des Dachs ist dilettantisch verlaufen. Während der fällt Putz von den Decken. Das Gerüst bleibt nach Abschluss der Arbeiten monatelang weiter stehen. Und der ehemals idyllische Hinterhof ist da bereits zur Müllkippe verkommen: Baumüll und Schutt machen es zusehends unmöglich, sich noch einen Weg in die Wohnungen zu bahnen. Das ist aber noch nichts gegen das, was die umfassenderen Sanierungsarbeiten anrichten.

Denn, so die Mieterin: „Die Arbeiten werden von wechselnden Baufirmen ausgeführt, deren Arbeiter unter erbärmlichsten Bedingungen gleichzeitig an mehreren Baustellen tätig sind und ohne Sinn und Verstand mal hier und mal dort werkeln. Zwischendurch passiert über lange Zeiten auch gar nichts, und die Baustelle bleibt einfach im jeweiligen Zustand.“ Und der ist zum Teil lebensgefährlich: Gerüste sind nicht richtig gesichert, bei stärkerem Wind fallen Materialien herunter. Einmal werden Gerüstteile am Vorderhaus auch direkt auf die Schönhauser Allee geweht und lösen einen Polizeieinsatz aus.

Die Bewohner*innen kritisieren das Handeln auf der Baustelle als verantwortungslos. / Foto: Mieter*innen der Schönhauser Allee 69

Im Oktober 2020 werden alle Kellerfenster entfernt; bis heute ist dort alles offen. Wasser läuft in den Keller mit den Stromkästen; immer wieder kommt die Feuerwehr. Nachdem der Vorbau am Seitenflügel abgerissen wird, steht auch das Treppenhaus offen – ebenfalls bis heute. Die Bäder, die gemäß der Modernisierungsvereinbarung eingebaut werden, sind bis heute nicht ans Warmwasser angeschlossen, und vier Mietparteien werden ohne Heizungen in den bevorstehenden Winter gehen.

Und die Bausubstanz verrottet immer weiter, eine Wohnungsdecke ist bereits durchgebrochen. „Es ist eine unfassbare Mischung aus Unvermögen, Schlamperei, Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit“, fasst die Mieterin zusammen. „Und den Investoren ist es natürlich egal, da sie keinen finanziellen Druck haben. Der Bodenwert steigt in der Zeit weiter.“

 

Partytime und möblierte Unterkunft

Doch dabei bleibt es nicht. Denn mit seinem verwahrlosten Zustand ist das Haus inzwischen auch zu einer Spielwiese für Partywillige geworden, die nachts auf den Gerüsten herumklettern, manchmal auch in das Haus eindringen, einmal einen Feuerlöscher leeren und den Löschschaum überall versprühen. Auch zu richtigen Einbrüchen über die Gerüste ist es schon gekommen.

Die zuständige Hausverwaltung, die sich laut Eigenwerbung um über 12.000 Objekte kümmert, reagiert hingegen nur in den seltensten Fällen auf Beschwerden. Vielmehr treibt sie die absurden Zustände noch weiter: Einmal klebt unversehens ein Zettel im Flur, mit dem die Mieter*innen ermahnt werden, das „Beschmieren und Bekleben“ der Briefkästen zu unterlassen.

Am unglaublichsten für die Bewohner*innen ist allerdings, dass eine circa 90 Quadratmeter große Wohnung im Vorderhaus mittlerweile neu vermietet ist: als möblierte Unterkunft auf Zeit für 2800 Euro Monatsmiete. „Das haben drei Jungs im Internet gemietet“, erläutert die Anwohnerin: „Die Wohnung wird ja nur auf internationalen Portalen im Netz angeboten.“

Bleibt die Frage, warum so etwas überhaupt möglich ist – und wozu es in Berlin eigentlich eine Bauaufsicht gibt. Auf Nachfrage der Prenzlauer Berg Nachrichten antwortete Cornelius Bechtler, jetziger Grünen-Baustadtrat in Pankow, jedenfalls: „Die Baustelle ist der Bauaufsichtsbehörde bekannt. Sie wird regelmäßig kontrolliert.“

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