„Ich träume von Tauben!“

von Peter Schulz 7. August 2023

Seit Kindheitstagen sind Tauben das große Hobby von Semso Ehnert. Seit mehr als 20 Jahren darf er sie sogar im Mauerpark halten. Ein Besuch.


Dies ist ein Text aus unserem Schwerpunkt
„Leute im Kiez“


Während Semso Ehnert, Spitzname Nico, sich wunderbar in seinem osteuropäischen Akzent echauffiert über seine Frau, die einfach einen Termin vereinbart hat, obwohl er gar nicht reden möchte, wirklich kein Interesse hat, in der Zeitung zu erscheinen, stellt Reinhild Ehnert zwei Sitzbänke auf und versucht ihn zu beruhigen, zu überreden. Er soll sich bitte setzen. Das eine Wort gibt das andere, es wird auch ein bisschen lauter – er will einfach nicht –, aber sie streiten gar nicht wirklich, weil sich beide selbst beim Streiten verschmitzt anlächeln, zuweilen spitzbübisch kichern. Und schon in den ersten Minuten ist klar: Die beiden sind zusammen als Ehepaar großartig – lustig und lebensfroh und lebendig. Seit über 24 Jahren sind Semso und Reinhild Ehnert verheiratet, sie gehören einfach zusammen, im September feiern sie Silberhochzeit.

Was für ein Anfang, was für ein Kennenlernen! Etwa eine halbe Stunde geht das so, er steht angelehnt am Taubenhäuschen und will nicht sprechen, hat aber schon längst begonnen zu erzählen. Sie, schon Rentnerin, guckt mit großen Augen zu ihm hoch und sächselt in einem auffällig grün-weiß gestreiften Kleid: „Ach Nico“. Immer wieder weise ich daraufhin und sehe dabei abwechselnd beide an, dass niemand gezwungen wird und niemand gar nichts muss, woraufhin Reinhild Ehnert scheinbar noch intensiver insistiert und sagt: „Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.“ Irgendwann sitzt er doch auf seiner Sitzbank. Ich lasse Stift und Notizblock in der Tasche und höre weiter zu.

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Ehnert ist Ausnahme

Wir sitzen also zu dritt in einem etwa 25 Quadratmeter großen, eingezäunten und mit Hecken bewachsenen Areal mit verschiedenen Taubenverschlägen. Dort sind die Älteren, da die Jüngeren, in der Ecke die Friedenstauben. Die Gemüter haben sich beruhigt. Semso Ehnert erzählt und seine Frau ergänzt, wie die Taubenhaltung im Mauerpark begann und was es zuweilen für ein Kampf war, hier jetzt sitzen zu können. Nachdem er zur Jahrtausendwende zuerst neben dem neu eröffneten Kinderbauernhof ein Taubenhaus gebaut hatte, war schnell klar, dass er dort nicht bleiben darf.

Die Verhältnisse sind nicht ganz geklärt: Gehört der Taubenschlag zum Kinderbauernhof? Braucht Semso Ehnert eine Genehmigung? Es folgen Anträge, die Suche nach einem geeigneten Platz und Bangen und Kämpfen, bis das Bezirksamt 2001 ihm für das kleine Grundstück nahe dem Gleimtunnel einen Pachtvertrag gibt. Seither ist es auch offiziell und verwaltungstechnisch besiegelt, dass er hier 58 englische Tippler-Wettflug-Tauben halten darf. Das war und bleibt nicht nur eine einmalige Attraktion, sondern auch eine Ausnahme, denn schon oft wollten ihn andere nachahmen.

 

Aufgewachsen in Bosnien

Wer so viel in Bewegung setzt und kämpft für ein paar Tauben im Mauerpark, für den kann es doch nicht nur einfach ein Hobby sein. Wie kam es dazu, will ich von ihm wissen, wann hat seine Liebe zu Tauben begonnen? Angefangen hat es schon, als er ein kleiner Junge war. Da lebt er noch in Bosnien und ahnt nicht, dass ihn das Schicksal einst nach Deutschland führen würde. Tauben sind jedenfalls immer dort, wo Semso Ehnert ist.

Selbst als er 1991 während des Jugoslawienkriegs aus Bosnien flieht und nach Berlin-Schöneberg in ein Flüchtlingslager kommt. Dort gibt es eine kleine Rasenfläche. Der damals 24-Jährige fragt, ob er ein paar Tauben halten könne, der Heimleiter stimmt zu. Vielleicht hilft es Semso Ehnert dabei, heimisch zu werden, wenn er sich um etwas kümmern muss. Über 30 Jahre später sagt der heute 56-Jährige, als er diese Geschichte erzählt: „Ich träume von Tauben. Tauben sind mein Leben.“

 

Die Tauben leben in einer kleinen Hütte unweit des Kinderbauernhofs im Mauerpark / Foto: Peter Schulz

 

Die Freude daran, sich um andere zu kümmern, spiegelt sich auch in seinem Beruf wider. Der gelernte Kellner hat eine Ausbildung zum Gesundheitspraktiker absolviert und arbeitet seit 2001 im Gesundheitswesen, zuerst als Bote, jetzt in der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg als Betreuungs-und Servicekraft. Der Weg dorthin war schwierig. Denn so gerne er auch sofort arbeiten wollte, als er nach Deutschland kam – er betont es mehrmals und scheint für diesen Umstand immer noch kein Verständnis zu haben –, er durfte es wegen des über sechs Jahre dauernden Aufenthaltsstatus nicht. Er war nur geduldet, was heißt, dass die Abschiebung ausgesetzt war. Erst als er 1996 Reinhild kennenlernte und sie 1998 heirateten, konnte Semso Ehnert endlich sein eigenes Geld verdienen. Auch für Reinhilds drei Söhne aus einer früheren Beziehung setzt er sich immer verantwortungsvoll ein.

 

Flucht nach Österreich

Zurückgehen war nie eine Option. Außerdem herrscht zu dieser Zeit immer noch Krieg auf dem Balkan. Ehnert war frühzeitig geflohen, noch bevor er zum Militärdienst eingezogen werden konnte. Drei beste Freunde hat er damals, mit ihnen will er fliehen, raus aus Bosnien. Mit Zweien läuft er zwei Stunden durch einen Wald, bis sie einen Fluss erreichen. Doch Semso kann schlecht schwimmen. Ein glücklicher Zufall will es, dass jemand, den er über die Tauben kennt, gerade mit seinem Boot zum Angeln hinausfährt. Er bringt sie über den Fluss, es ist die Rettung. Drei Tage später, inzwischen bei der Tante in Österreich angekommen, kommt die Nachricht: Der Freund, der blieb, ist tot.

Zu den zwei Freunden hat er immer noch Kontakt. Und auch die Liebe zu Tauben hat nie abgenommen. Immer wieder findet Semso Ehnert eine Möglichkeit, seinem großen Hobby nachzugehen, selbst als er mit Reinhild Ende der 90er Jahre in die Schönhauser Allee zieht. Ein paar Hundert Meter entfernt, auf dem Bauspielplatz in der Kollwitzstraße, darf er einen kleinen Taubenschlag bauen und sie dort halten, bis er letztlich im Mauerpark mit seinen Tauben landet. Heute wohnen beide idealerweise einen Katzensprung vom jetzigen Taubenstall entfernt, auf der Weddinger Seite. Semso Ehnert muss täglich vor Ort sein, um die Vögel zu füttern und ihnen frisches Wasser zu geben.

Am Ende holt der 56-Jährige eine Friedenstaube, übergibt sie seiner Frau Reinhild, die mit mir aus dem eingezäunten Grundstück direkt auf eine Wiese in den Mauerpark geht. Sie erklärt mir, wie ich sie halten und dass ich sie dann einfach in den Himmel nach oben werfen soll. Gesagt, getan! Die Taube fliegt die paar Meter zurück aufs Dach des Taubenhäuschens. Heute lässt er, wenn er gefragt wird, seine weißen Friedenstauben manchmal bei Hochzeiten oder anderen Anlässen in die Lüfte steigen. Zum Schluss gibt es noch ein Glas Wasser, Semso Ehnert redet nicht mehr davon, nicht in der Presse erscheinen zu wollen, und Reinhild Ehnert sagt schmunzelnd: „Ich habe ein gutes Gefühl.“ Und da ist es wieder, das Ehepaar Ehnert vom Anfang, nur viel entspannter.

 

Titelbild: Peter Schulz

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