Silke Schneider muss ihre Apotheke in der Wisbyer Straße schließen. Im Gespräch erklärt sie, warum sie kein Einzelfall ist.
Eine Frau steht am Tresen, reicht ein Rezept rüber. Eigentlich möchte sie nur ein Mittel gegen einen zu hohen Cholesterinspiegel abholen, das ihr verschrieben wurde. Silke Schneider, die Inhaberin der Apotheke in der Wisbyer Straße, steht am Schalter und muss ihr erklären, dass das Arzneimittel, das sie dringend benötigt, nicht vorhanden ist.
Die Apothekerin versucht eine Lösung zu finden, stellt Nachfragen, überlegt, ob das Medikament eines anderen Herstellers infrage kommt. Sie geht nach hinten, schaut in Schubladen, obwohl sie eigentlich weiß, dass sie auch da keins finden wird. Die Kundin muss mit leeren Händen wieder gehen. Und das ist heute nicht der erste Fall. Schneider konnte für ein spezielles Rezept kein einziges Antibiotikum organisieren. Dabei ist es erst 9.15 Uhr.
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Eine schlimme Lage
Der Fall ist typisch für die Apotheken derzeit. Seit Längerem können Apotheker*innen wie Silke Schneider ihren Kund*innen nicht die verschriebenen Arzneimittel aushändigen. Denn zahlreiche Medikamente sind Mangelware. In diesem Jahr sei es besonders schlimm, sagt Schneider.
„Ich habe es noch nie erlebt, dass OTC-Arzneimittel, also rezeptfreie Medikamente, nicht lieferbar sind. Es gab keine Fiebersäfte, keine Hustensäfte. Die waren das erste Mal nicht lieferbar. Mit den verschreibungspflichtigen Medikamenten schlagen wir uns schon seit drei oder vier Jahren herum“, erklärt die Apothekerin „Man schickt eigentlich laufend seine Kunden weg oder versucht, das mit Kollegen zu regeln.“
Zu viel Bürokratie
Ihr entstehe dadurch ein großer Mehraufwand, denn sie müsse nach Alternativen suchen. Und die werden nicht bezahlt. Denn bekommen Patient*innen ein Medikament verschrieben, das nicht lieferbar ist, kann Schneider nicht einfach ein anderes verkaufen – auch nicht, wenn es denselben Wirkstoff enthält. Stattdessen muss sie jedes Mal mit der Praxis absprechen, ob ein anderes Medikament infrage kommt. Auch wenn keine Dosierung auf dem Rezept enthalten ist, kann sie das Rezept eigentlich nicht einlösen, da die seit November 2020 Pflicht ist.
In beiden Fällen muss ein neues Rezept erstellt werden oder das alte muss von dem*der Ärzt*in abgeändert und unterschrieben werden. Alle Änderungen müssen genau dokumentiert werden. Sonst könne es passieren, dass die Krankenkasse das Medikament nicht erstattet – auch wenn es sich um einen Formfehler der Arztpraxis handelt. Der Bürokratieaufwand sei derzeit sehr hoch, kritisiert sie. „Es sind immer wieder Aufgaben dazugekommen, aber die Bezahlung ist immer dieselbe geblieben. Es geht nicht mehr.“
Apotheken bleiben geschlossen
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) sieht das ähnlich und hat deshalb zu einem bundesweiten Streik gegen die Arzneimittelpolitik der Bundesregierung und der Krankenkassen aufgerufen. Am Mittwoch bleiben deswegen zahlreiche Apotheken, mit Ausnahme der Notdienstapotheken, geschlossen.
Der Dachverband beklagt nicht nur die Lieferengpässe, auch der Fachkräftemangel, die steigenden Personal- und Energiekosten sowie zu viel Bürokratie belasteten die Geschäfte. Sie würden kaputtgespart, sagt der Verband, das sei auch der Grund für „die immer schneller zurückgehende Zahl der Apotheken vor Ort“.
Tatsächlich sinkt die Zahl der Apotheken in Deutschland seit Jahren. Schon jetzt gibt es weniger als 18.000, teilte der Verband Ende April mit. In Berlin gibt es derzeit rund als 730 öffentliche Apotheken. „Wir verlieren aktuell alle 17 Stunden eine Apotheke“, sagt ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening.
Der Nachwuchs fehlt
Das liegt zum einen an der wirtschaftlichen Lage und am Personalmangel, zum anderen haben immer mehr Apothekeninhaber*innen Schwierigkeiten Nachfolger*innen zu finden. Der Beruf lohnt sich für viele nicht mehr, viele scheuen aufgrund der Bedingungen mittlerweile die Selbstständigkeit.
Auch Silke Schneider hatte Schwierigkeiten, Personen zu finden, die ihren Laden übernehmen möchten. „Es ist nicht so, dass sie hier Schlange stehen und die Apotheke haben wollen“, sagt sie. Während sie dies mit einer anderen Filiale in Mitte erfolgreich geschafft hat, sei die Übergabe in der Wisbyer Straße nur mit Ärger verbunden.
Es sei Glück gewesen, dass überhaupt zwei Leute Interesse gehabt hätten. Doch der Vermieter habe Probleme gemacht, sagt sie. Zu einer Einigung mit einem der Interessenten sei es nie gekommen, beide hätten irgendwann aufgegeben. In der kurzen Zeit, sei es unmöglich noch jemanden zu finden – selbst wenn diese Person auf einmal dem Vermieter zusage. Schneider schließt nun Ende des Monats ihre Filiale, ohne eine Nachfolge gefunden zu haben. Rundherum gibt es dann keine Apotheke mehr. Die Apotheke am Humannplatz hat bereits vergangenes Jahr geschlossen.
Protest sei notwendig
Auch wenn sie bald in Rente geht, beteiligt sie sich am Protest: „Ich mache auch zu, weil es einfach sein muss. Denn sonst bringt es ja nichts. Wir müssen schon zeigen, dass wir das jetzt wirklich satthaben“, sagt sie.
Tatsächlich hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den Forderungen der Branche nach mehr Geld bereits eine Absage erteilt. Die fehlenden Haushaltsmittel ließen derzeit keine Möglichkeit für einen solchen Schritt. Auch von den Krankenkassen gab es zuletzt Widerspruch. Ein Argument: Für rezeptfreie Medikamente könnten die Apotheken die Preise selbst festlegen.
Das sei Unsinn, sagt Schneider. „Natürlich können wir die nichtverschreibungspflichtigen Dinge hochpreisen, aber wir stehen mit dem Internet in Konkurrenz und wir stehen auch mit den Nachbarn in Konkurrenz. Es bringt also nichts, wenn ich das für ein paar Euro mehr verkaufe.“ Außerdem ändere dies nichts am Mehraufwand wegen der Lieferengpässe und der längeren Beratung.
„Die Leute, die über uns reden, die haben keine Ahnung. Die sollen einfach mal in die Apotheke gehen und eine Woche Praktikum machen“, fordert Schneider.
Titelfoto: Christina Heuschen
1 Kommentar
Auch in „handwerklicher“ Hinsicht ein sehr guter Artikel, der die aktuellen – eher abstrakten – dpa-Meldungen über dieses ärgerliche Thema anschaulich und bürgernah auf die alltägliche Praxis im Kiez „übersetzt“.