Immer wieder sorgt die Verkehrsinfrastruktur in Prenzlauer Berg für Ärger. Der Verkehrswissenschaftler Oliver Schwedes erklärt im Interview, was sich ändern muss.
In Prenzlauer Berg protestieren Autofahrer*innen, weil Parkplätze auf der Schönhauser Allee wegfallen. Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, stolpern über unebene Gehwegplatten. Und Radfahrer*innen riskieren an unübersichtlichen Kreuzungen wie am Friedrichshain regelmäßig, angefahren zu werden. Der Leiter des Fachgebiets für Integrierte Verkehrsplanung am Institut für Land- und Seeverkehr der Technischen Universität Berlin Oliver Schwedes weiß, wie Stadtplanung besser gestaltet werden kann.
Welche Fortbewegungsmittel haben Sie heute schon genutzt?
Ehrlich gesagt noch gar keine. Ich habe das noch vor mir. Heute werde ich mit dem Fahrrad zum Hackeschen Markt fahren.
Woran liegt es, dass die Situation zwischen Autofahrer*innen, Radfahrer*innen und Fußgänger*innen oft so verhärtet ist?
Das ist eine gute Frage. Ich bin selbst lange Zeit leidenschaftlicher Autofahrer gewesen. Aber ich kenne auch die andere Position. Mein Eindruck ist, dass man eher die Position vertritt, in der man gerade ist. Die Lager sind gar nicht mehr so eindeutig zu ziehen. Wir haben hier in Prenzlauer Berg mal eine Studie durchgeführt, in der wir Haushalte befragt haben, warum sie noch ein Auto haben. Da gibt es sehr unterschiedliche Typen, die wir identifiziert haben.
Die Mehrzahl hat gesagt: „Ich halte den privaten PKW eigentlich nur noch für die wenigen Gelegenheiten, in denen ich glaube, den zu benötigen und ich keine attraktive Alternative habe.“ Dazu gehören der berühmte Einkauf bei Ikea oder der Ausflug am Wochenende nach Brandenburg. Den Haushalten fehlen oft die entsprechenden Äquivalente. Dann gibt es aber auch das andere Extrem: diejenigen, die eine emotionale Beziehung zu ihrem PKW haben. Da würde Verkehrsplanern auch nichts einfallen, wie man die erreichen könnte.
Ich glaube, das hat viel mit der Kultur zu tun, die sich ändern muss – einer autozentrierten Kultur. Auch die Verkehrsplanung der letzten Jahrzehnte hat sehr stark den motorisierten Verkehr in den Vordergrund gestellt. Das hat sich im öffentlichen Straßenraum niedergeschlagen. Wenn Sie sich die Flächenverteilung angucken, dann ist die, wie viele sagen, sehr ungerecht verteilt. Ein Beispiel ist die fehlende Fahrradinfrastruktur. Man sollte nicht gezwungen zu sein, auf dem Bürgersteig zu fahren und dann mit Fußgängern in Konflikt zu geraten, weil wir, wie hier in Prenzlauer Berg, Kopfsteinpflaster haben. ___STEADY_PAYWALL___
So entstehen diese Konfliktsituationen. Das ist kein böser Wille der einzelnen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer. Weder der Fußgänger, noch der Autofahrer, noch der Fahrradfahrer, sondern das ergibt sich vielfach aus einer Kultur, die sich etabliert hat und auch in der Infrastruktur manifestiert ist, die die einen benachteiligt und die anderen bevorzugt. Ich glaube da müssen wir ran.
Aber wie?
Wenn man zu einer gerechteren und zu einer ausgewogeneren Verteilung kommen möchte, muss irgendwo besser justiert und aufgeteilt werden. Letzte Woche bin ich aus dem Urlaub zurückgekommen. Ich war in Amsterdam und Den Haag, da gibt es ganz andere Verhältnisse. Da ist der Radverkehr in den letzten Jahrzehnten stark gefördert worden, das ist vorbildlich. Dennoch ist das oftmals auf Kosten des Fußverkehrs geschehen. Das sind dann die Schattenseiten, die nicht genannt werden. In Deutschland haben wir die Chance, das von Anfang besser zu machen, indem wir alle Verkehrsbeteiligten integriert betrachten. Auch die neuen Mobilitätsdienstleistungen wie E-Roller müssen wir berücksichtigen.
Wie sähe denn die ideale Infrastruktur aus, in der alle Beteiligten einen Platz haben?
Nehmen wir dieses Beispiel: Wieviel Platzverbrauch haben die einzelnen Verkehrsmittel und welchen Anteil am Verkaufsaufkommen haben sie? Da gibt es eine riesen Diskrepanz. Gerade in Berlin gibt es eine relativ geringe PKW-Quote, also gut 300 Autos pro 1.000 Einwohner. Und trotzdem sehen wir auch, dass der PKW 60 Prozent der Fläche beansprucht. Was besonders ärgerlich ist, weil dieses Fahrzeug eigentlich ein Stehzeug ist: Es steht im Schnitt 23 Stunden am Tag und wird gar nicht genutzt. Für andere Zwecke kann diese Fläche dann leider nicht genutzt werden. Das ist eigentlich eine Privatisierung von öffentlichen Raum, der für alle zugänglich sein sollte.
Wenn aber der Raum neu aufgeteilt werden soll und wir den Rad- und Fußverkehr fördern wollen, dann müssen wir diese Flächen, die wir dafür brauchen, irgendwoher nehmen. Denn die sind schon verteilt. Das heißt, wir müssen sie auf Kosten von jemandem nehmen, der sie heute belegt. Und Sie werden es erahnen: es kann eigentlich nur der motorisierte Verkehr sein. Das Beispiel Schönhauser Allee ist sehr aktuell gerade: Da wollen wir eine gute Fahrradinfrastruktur bauen – auf Kosten von Parkständen, weil es nicht anders geht.
Was für Faktoren spielen noch eine Rolle? Ich denke da auch an so etwas wie Ampelzeiten…
Ja klar. Das können wir jetzt durchdeklinieren. Was brauchen Radfahrerinnen und Radfahrer? Was brauchen Fußgängerinnen und Fußgänger? Eine grüne Welle für Radfahrer wäre schön. Das kennen wir bis jetzt nur von Autofahrern. Eine separate Ampelschaltung für Radfahrer, damit dann diese schrecklichen Abbiegeunfälle nicht passieren und Radfahrer besser gesehen werden. Fußgängergerechte Ampelschaltungen sind natürlich auch ein ganz großes Thema, was in der Verkehrsplanung noch überhaupt nicht richtig angekommen ist. Ich bin zuversichtlich, dass man die Ampelschaltung in Zukunft anders gestaltet.
Es gibt international ein schönes Beispiel. In Singapur bekommen körperlich eingeschränkte und ältere Menschen eine Karte, die sie an die Ampeln dranhalten. Dann kriegen die sofort grün. Und dann auch noch ein längeres Grün, weil sie länger brauchen, um rüberzukommen – eine intelligente Ampelschaltung, die auf individuelle Bedarfe reagiert. Oder Zebrastreifen: Bei uns ist zum Beispiel nicht erlaubt, einen Zebrastreifen auch über einen Radweg zu führen. Das würde dazu führen, dass Radfahrer noch einmal stärker auf Fußgänger Rücksicht nehmen müssten. Aber das wird kommen, weil die praktische Verkehrsinfrastruktur kommt. Wir machen gerade sehr viel für Radverkehr und an vielen Stellen wird der Fußverkehr nicht ausreichend berücksichtigt.
Wie wird denn überhaupt eine Stadt in Bezug auf Mobilität geplant?
Das ist das Dilemma: 2030 ist die neue Benchmark, 2020 haben wir gerissen. Der Verkehrssektor ist der einzige Sektor, der seinen Einsparungsbeitrag an CO2-Emissionen überhaupt nicht erreicht hat. Da bleibt uns eigentlich gar nicht mehr so viel Zeit. Insbesondere gemessen an den langen Zeiträumen, die erfahrungsgemäß die Entwicklungen von Stadt- und Verkehrsentwicklung brauchen. Viele sagen, dass wir deswegen heute eigentlich auch schneller vorankommen müssen als in der Vergangenheit.
Das heißt aber umgekehrt auch, dass wir anders planen müssen als in der Vergangenheit. Wir müssen viel mehr experimentieren und wir müssen temporärer und niedrigschwelliger planen. Dinge ausprobieren, die man nachher wieder zurücknehmen kann, wenn man feststellt, das ist anders gekommen als gedacht. Wir müssen es vielleicht justieren, wir müssen vielleicht noch einmal ganz anders denken.
Gleichzeitig ist das aber auch die Chance, schneller planen zu können. Sie haben mit Sicherheit diese Pop-up-Bikelanes noch vor Augen, die während der Corona-Zeiten eigentlich über Nacht aufgestellt wurden. In diese Richtung muss man heute stärker denken. Das machen die Bezirke auch. Teilweise, weil sie kein Geld haben, um da jetzt Tiefbaumaßnahmen durchführen zu können oder, weil sie sagen: „Ich trau mich gar nicht eine teure Tiefbaumaßnahme umzusetzen, die dann wieder 100 Jahre halten soll wie in der Vergangenheit.“
Was muss sich denn strukturell ändern, in den Bezirksämtern oder an der Gesetzeslage, damit so etwas funktionieren kann?
Wir sind an allen Ecken und Enden dran. Angefangen bei den technischen Regelwerken der Verkehrsplaner, die seit Jahren überarbeitet werden. Im technischen Regelwerk steht zum Beispiel drin, wie breit ein Radweg sein muss. Das Mindestmaß war ein Meter, dann 1,50 Meter, jetzt sind es zwei. Wir überlegen schon 2,50 Meter, damit sich auch Lastenräder überholen können. Das hört gar nicht mehr auf. Genauso bei der Rechtsgrundlage: die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsgesetz. Da gibt es viele Hürden, die einer Rad- und einer Fußverkehrsförderung entgegenstehen, weil die Gesetze den KfZ-Verkehr priorisieren.
Dort steht, der Verkehrsfluss muss aufrecht erhalten werden, das ist die oberste Priorität. Wenn man zum Beispiel Durchgangsverkehr rausnehmen will in den Kiezblöcken, die wir jetzt gerade in Pankow entwickeln, muss alles begründet werden. Ich muss begründen, warum ich etwas für Fuß- und Radverkehr mache, warum ich etwas für die Entlastung der Anwohner machen möchte. Alles muss eigentlich immer mit einer qualifizierten Gefahrenlage begründet werden. Es muss mindestens einen Toten geben. Alles andere ist rechtlich angreifbar. Wenn Sie einen Kläger haben, kann der Ihre Maßnahmen zu Fall bringen. Und das passiert immer wieder. Also muss die Rechtsgrundlage geändert werden, damit es einfacher ist, Lebensqualität zu schaffen und drohenden und auch fließenden Verkehr stärker reglementieren und auch einschränken zu können.
Was muss sich noch ändern?
Politik und Verwaltung. Das Ziel muss sein, referatsübergreifend, also zuständigkeitsübergreifend, zu arbeiten: Also Stadtentwicklung, Verkehrsentwicklung zusammendenken, Verkehrsplanung und Soziales zusammendenken, Verkehrsplanung und Bildung zusammendenken, Stichwort Schulwegesicherung. Eigentlich ist Verkehr ein Querschnittsthema, das alle anderen Bereiche mehr oder weniger stark tangiert. Deswegen ist es notwendig, wenn Sie Verkehr nachhaltig, also sozial verträglich, ökologisch und auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sinnvoll entwickeln wollen, dass Sie mit allen anderen Referaten die Köpfe zusammenstecken. Wir müssen günstige und dann gleichzeitig auch sozial-ökologisch nachhaltige, aber auch wirtschaftliche Verkehrsmittel fördern. Und die, die uns die meisten Kosten verursachen, müssen wir eigentlich nach Möglichkeit vermeiden. Wenn das ankommt, dann hätten wir schon viel gewonnen.
Aber dazu muss eben die Verwaltung und eben auch die Politik anders agieren. Um noch einmal ein Beispiel zu nennen, was es sehr deutlich macht: Als Verkehrsplaner sind wir zunehmend konfrontiert mit Bürgerinnen und Bürgern, die sagen: „Wenn ihr hier den öffentlichen Straßenraum entwickelt und attraktiver macht, zum Beispiel Autos rausnehmt und stattdessen Parkplets oder was auch immer installiert, dann befürchten wir die Gentrifizierung.“ Das ist eine in den letzten Jahren immer häufiger genannte Befürchtung. Das ist aber natürlich kein originäres Thema der Verkehrsplanung. Das können wir nicht lösen. Da brauchen wir eben die Leute von der Stadtentwicklung und Wohnungsbaupolitik. Es kann nicht sein, dass wir den unteren Einkommensschichten Lebensqualität verwehren oder dass sie darauf verzichten.
Wichtig ist, dass man tatsächlich offensiv mit Konflikten umgehen muss. Wenn man den öffentlichen Straßenraum neu aufteilen will, dann geschieht das zu Gunsten der einen und auf Kosten der anderen. Das ist der Konflikt, der sich abzeichnet. Der ist nicht auflösbar, aber den muss ich austragen.
Politik und Verwaltung scheuen sich immer noch sehr stark, das öffentlich anzusprechen und diese Konflikte dann auch offensiv auszutragen mit den Betroffenen. Da kommen wir nicht drumherum. Man kann nicht alles in irgendwelchen Kompromissformeln auflösen. Aber ich finde es wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger wissen, warum die Politik eine Entscheidung an der Stelle so getroffen hat und nicht anders. Ich glaube, da wären wir viel weiter. Und das können dann auch die, die es negativ getroffen hat, nachvollziehen. Ich glaube, das nimmt viel Frust.
Titelfoto: Markus Spiske/Pixabay