Es raschelt im Blätterwald: Der Herbst ist die wichtigste Saison auf dem Markt der literarischen Novitäten. Wir stellen euch fünf neue Bücher vor, die in Prenzlauer Berg spielen.
Rudolf Braune
„Das Mädchen an der Orga Privat“
Jaron Verlag, 174 Seiten, 14 Euro
Hätten die Menschen in den 1920er Jahren schon „me too“ unter der heutigen Bedeutung genutzt, wäre der Roman von Rudolf Brauner mit ziemlicher Sicherheit mit diesem Begriff vermarktet worden. Er erzählt die Geschichte von Erna, die 1928 mit 19 Jahren aus der Provinz in die Großstadt Berlin kommt. Sie beginnt eine Stelle als Tippmädchen in einem Büro auf der Prenzlauer Allee, sitzt mit zehn anderen jungen Damen Tag für Tag an der Schreibmaschine und muss sich die anzüglichen Sticheleien des Chefs gefallen lassen. Kommentare, die heute als sexuelle Belästigung gelten würden. Als eine der Kolleginnen entlassen wird, weil sie schwanger ist – übrigens von einem der Vorgesetzten – weigern sich die Stenotypistinnen weiterzuarbeiten, bis sie wieder eingestellt wird.
Braunes Roman, obwohl fast 100 Jahre alt, liest sich wie eine zeitgenössische Geschichte. Hier geht es nicht um die Laster der „wilden Zwanziger“, sondern um den täglichen Kampf der Frauen um angemessene Bezahlung und Gleichberechtigung. Der Jaron Verlag hat „Das Mädchen an der Orga Privat“ im Rahmen der „Berlin Bibliothek“, in der noch weitere Texte aus der Zeit erscheinen, neu aufgelegt. Eine sehr gute Idee!
Herr von Lortzing, wir wollten Ihnen eben mitteilen, dass wir alle die Arbeit verweigern, bis die Kündigung Trude Leußners zurückgenommen ist. Sie wissen genau, warum Trude Leußner in letzter Zeit nicht mehr so arbeiten konnte wie früher, sie wissen aber vielleicht noch nicht, dass sie heute Morgen ins Krankenhaus geschafft worden ist. Hier sind unsere Bedingungen, sie sind klar und selbstverständlich. Gleichzeitig wünschen wir, tariflich entlohnt zu werden.
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Jan Faktor
„Trottel“
Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 24 Euro
Bücher über die „Szene vom Prenzlauer Berg“ der DDR-Jahre gibt es etliche. Doch während einige nicht über eine nostalgische Verklärung rauchgeschwängerter Lyrik-Lesungen in feuchten Hinterhofwohnungen hinauskommen, sticht Jan Faktor mit seinem neuen Roman deutlich hervor: In „Trottel“ mäandert der 70-Jährige Schriftsteller, der 1978 aus Prag nach Ostberlin zog, mit diebischer Freude durch eine wilde Mischung aus Gedankengängen, Erinnerungen, Assoziationen, historischen Fakten und wissenschaftlichen Theorien; auch sein verstorbener Sohn, der sich vor zehn Jahren das Leben nahm, spielt eine wichtige Rolle.
Immer wieder fügt der Erzähler dem Text Fußnoten hinzu. Das ist bei Literatur eher ungewöhnlich und macht das Lesen bisweilen etwas flatterhaft, verhilft der Erzählerstimme aber gleichzeitig zu einem unverwechselbaren Charakter – er ist ein liebevoll verpeilter Luftikus. „Trottel“ steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022; ob er unter den fünf Finalist*innen das Rennen macht, entscheidet die Jury am 17. Oktober.
Die Besetzung nachträglich zu legalisieren und die reguläre Miete von 35 Mark zu zahlen, war dann eine Kleinigkeit. Wir besorgten uns die Kontonummer der Verwaltung und zahlten brav Monat für Monat, bis wier etwas später einen Mietvertrag bekamen. Zwischendurch hatten wir irgendwann auch geheiratet, fällt mir noch ein.
Lutz Rathenow
„Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“
Kanon Verlag, 272 Seiten, 24 Euro
Wie Jan Faktor hat auch Lutz Rathenow einiges von der Bohème Prenzlauer Bergs zu erzählen. Seine Gedichte und Prosatexte, die sich durch eine feine Beobachtungsgabe der soziologischen Verhältnisse in dem eingemauerten Land auszeichneten und die Harald Hauswald mit seinen Alltagsfotografien ergänzte, machten ihn schon zu DDR-Zeiten über die deutsch-deutsche Grenze hinaus bekannt. Nun wird Rathenow, der 1952 in Jena zur Welt kam, 70 Jahre alt – und präsentiert pünktlich zum runden Geburtstag seine literarischen Memoiren.
Doch es ist kein Lebenslauf in Schriftform, der sich an Lebensdaten orientiert – auch wenn die ersten Texte von seiner Kindheit handeln. Rathenow mischt kurze fiktionale Texte mit Erinnerungen an die einengende Spießigkeit eines Landes, dass er verachtete und doch nie verließ. Anekdoten aus Kindheit, Jugend, Elternschaft gehen Hand in Hand mit Reflektionen über die Zeit des Mauerfalls und die Entwicklung Prenzlauer Bergs von einem Arbeiterbezirk mit Außenklo zum gentrifizierten Eldorado für die zugereiste Mittelschicht und durchsanierte Eigentumswohnungen. Jahrelang musste Rathenow seine Texte unter größter Gefahr in den Westen schmuggeln, befand sich unter ständiger Beobachtung der Staatssicherheit. Den Mut hat er trotzdem nie verloren – und das liest man aus seinen Texten, die jetzt unter dem Titel „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“ deutlich heraus.
Das MfS lieferte auch für den Prenzlauer Berg eine lebensbegleitende Persönlichkeitsbeeinflussung, die den einen fördert (Arbeitsplatz, Veröffentlichungsmöglichkeit, Wohnung), den Zweiten behinderte, sich beim Dritten unsicher war und ihm eine Freundin zum Aushorchen an die Seite stellte. Der Vierte soll in den Westen oder den Alkoholismus gedrängt werden. Dafür gab es „Zersetzungsmaßnahmen“ als Planspiel. Die beliebteste und simpelste: das Gerücht verbreiten, der- oder diejenige sei bei der Stasi …
Jutta Voigt
„Wilde Mutter, ferner Vater“
Aufbau Verlag, 256 Seiten, 22 Euro.
Einmal Prenzlauer Berg, immer Prenzlauer Berg: Jutta Voigt, geboren 1941 im Bötzowkiez, ist untrennbar mit dem früheren Bezirk verbunden. Nachdem sie in „Stierblutjahre“ über ihre Zeit in der Ost-Berliner Theaterszene rund um das Brecht’sche Berliner Ensemble und die Künstlerkneipen am Kollwitzplatz geschrieben hatte, erzählt sie in „Wilde Mutter, ferner Vater“ nun ihre Familiengeschichte. Da sind die Eltern, die sich kurz vor dem Krieg kennenlernen und deren Liebe mitsamt ihres Wohnhauses zu Trümmern zerfällt. Da ist Erzählerin Judy, die die Kriegsnächte im großen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain verbringt, als Jugendliche mit den Halbstarken von der Schönhauser Allee flirtet und früh einen Schauspieler heiratet. Als Erwachsene begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit. Doch die Friedberger Straße, in der sie aufwuchs, gibt es nicht mehr.
Wer Voigts andere Bücher gelesen hat, dem mag einiges davon bekannt vorkommen; teilweise befinden sich Passagen darin, die sie aus ihren Reportagen für die Wochenzeitung Sonntag geschrieben und bereits 2009 gesammelt veröffentlicht hatte. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Jutta Voigt zu jenen Autor*innen gehört, die mit wenigen Worten eine Epoche derart lebhaft in Szene setzen können, dass man sich als Leserin Petticoat tragend zwischen den Ruinen des Prenzlauer Berg spazieren sieht.
„Die Friedeberger Straße wurde beim Wiederaufbau nach dem Krieg nicht wiedereingerichtet“, so ist es unter „Verschwundene Straßen in der Stadtgeschichte“ dokumentiert. „Es verblieb ein unbenannter Fünfzigmeter-Stumpf rechtwinklig zur Hans-Otto-Straße…“ Ein unbenannter Stumpf – das hört sich nach Amputation an. Weg, aus, vorbei auf ewig. Judy sucht immer wieder den unbenannten Fünfzigmeter-Stumpf auf, sie vermisst die Friedeberger Straße.
Bernd Wagner
„Verlassene Werke“
Faber & Faber, 500 Seiten, 26 Euro
Während Jan Wagner und Lutz Rathenow in ihren Büchern auf die DDR zurückblicken, stammen die Texte Bernd Wagners direkt aus jener Zeit: Dreizehn Jahre lang notiert er in seinen Notizheften kurze Prosastücke und Aphorismen, Träume, Wünsche, Begegnungen. Sein Werk umfasst stattliche 500 Seiten, die man nicht chronologische lesen muss. Zwar sind sie zeitlich in die Jahre 1976 bis 1989 eingeordnet; 1976 als das Jahr, in dem der 1948 im sächsischen Wurzen geborene Schriftsteller nach Ostberlin zog und eine steile Karriere in der Literaturszene der Stadt hinlegte. 1989 als der große Einschnitt, der Bruch, das erzwungende Zusammenwachsen zweier Staaten.
Doch haftet den Notizen oft etwas Zeitloses an: „Ich bin kein Liebhaber des Volkes. Ich gehöre selbst dazu“, schreibt er 1986. Da lebte er bereits in Westberlin, die DDR hatte ihn ein Jahr zuvor ausgebürgert. „Verlassene Werke“ sei der Versuch, der äußeren Chronologie der Ereignisse eine innere entgegenzusetzen, heißt es über das Buch. Innere Landschaften sind reichhaltig, ungefiltert, assoziativ und bisweilen ziemlich rätselhaft; sie machen Wagners Aufzeichnungen zu einer Fundgrube inspirierender Gedanken.
Nicht das Beste kommt heraus, wenn Menschen sich drängen. Die Gäste im Wiener Café jedenfalls, die die geistige Elite des Prenzlauer Bergs zu sein glauben, kamen wir gestern vor wie die versammelte Dummheit. Als ob bei gegenseitiger Annäherung nicht die Intelligenz, sondern der debile Urgrund nach oben drängt.