Am 13. August 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut. Heute kommen auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße Menschen aus aller Welt zusammen. Sie haben ihn in eine Oase verwandelt.
Ein Gastbeitrag von Bettina Röder
Songjie Lui gießt in der Abendsonne ihr Beet. Schwarzkohl, Zucchini, Tomaten und sogar Gurken aus ihrer Heimat hat die gebürtige Chinesin darauf gepflanzt. Doch auch ringsum grünt und blüht es: violetter Sommerflieder neben weißen Rosen, gelbe Sonnenblumen neben rosa Levkojen. Kleine Apfelbäume tragen schon grüne Früchte. Ein geheimnisvoller Zauber geht von all dem aus.
Doch Achtung: Das hier ist kein gewöhnlicher Garten. Es ist einer dieser Orte, die immer wieder berühren, weil sie so seltsam nah und doch so fern sind. Spätestens die bemalten Mauerreste, die ihn zum Elisabeth-Friedhof hin begrenzen, künden davon: Dieser Garten in Berlin-Wedding befindet sich auf dem ehemaligen Todesstreifen, nur wenige Schritte hinter der Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße.
Die historischen Bilder vom 13. August 1961, als der Mauerbau diese Straße zerschnitt, gingen um die Welt. Wo einst geschossen wurde, Minenfelder und Wachhunde Leben erstickten, haben mehr als 50 Menschen aus 16 Nationen diesen Garten angelegt und ihn gemeinsam zum Blühen gebracht.
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Songjie Lui hat in der Hitze dieses Abends zahlreiche Gießkannen geschleppt. Jetzt sitzt die zierliche Frau im schwarzen Sommerkleid auf einem der Holzstühle, die über den Garten verteilt sind. „Es ist Wahnsinn, hier ein Beet zu haben. Ich bin stolz darauf“, sagt sie. „Die Berliner Mauer berührt die Welt. Ihr Ende ohne Krieg und Blutvergießen.“
Die aus Xi`an stammende Mikrobiologin, die zunächst in China Landwirtschaft studierte und seit 1992 in Deutschland lebt, weiß sehr genau, was das heißt. Sie war auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 dabei, als das Militär die Hoffnung der Menschen auf ein friedliches Miteinander brutal niederschlug. Genauso denkt sie aber auch an geteilte Länder wie Israel und Palästina oder Korea. Von einer Nachbarin hörte sie von dem Garten, war „einfach hergekommen“ und erfüllte sich einen Traum.
„Ein Garten, das ist immer wieder der gleiche große Zauber“, sagt Bernd Schumann, der Obstbauer aus Leidenschaft, der maßgeblich den Plan für alles geliefert hat. Der 58-Jährige mit den grauen kurzen Haaren und den wachen blauen Augen hinter der Brille steht mit dem Fahrradhelm unter dem Arm inmitten der Blütenpracht.
Es braucht viel Leidenschaft
„Nein, nein“, er schüttelt den Kopf. „Zauber, das heißt ja nicht, peng und alles ist gut.“ Die Erde war durch die Geschichte hart geworden. Schließlich war der Todesstreifen ein Ort, an dem kein Grashalm wachsen durfte. Und nach der Maueröffnung luden Besucher*innen des Friedhofes hier allen Schutt ab, der sich in der Zeit der Teilung angesammelt hatte. Als der Garten 2016 angelegt wurde, mussten die Gärtner*innen mit großer Mühe die Erde lockern.
„Erde, die durch die Geschichte verhärtet ist, braucht Vision und Leidenschaft, um auf ihr wieder Leben möglich zu machen.“ Vor allem brauche es die Überzeugung, „dass sich die Dinge zum Guten ändern können, wenn Menschen nur daran glauben“, sagt der im sächsischen Schönfeld aufgewachsene Bernd Schumann, der heute als Altenpfleger in Berlin-Wedding arbeitet. Diese Erfahrung hat ihn im Jahr 1989, als er bei der Friedlichen Revolution in der DDR mittendrin war, geprägt. Seine Rechnung ging auf.
Denn schon bald, nachdem die Idee von dem Garten entstanden war, kamen auch Menschen, sie standen am Zaun und wollten mitmachen. Der Plan, jeden ein Beet anlegen zu lassen, funktionierte. Wer kam, war willkommen. Keiner fragte nach Religion oder Herkunft. „Zugehörigkeit braucht keine Eintrittskarte“, ist Schumann überzeugt.
Waren es am Anfang zehn Beete, die sich um den Feigenbaum gruppierten, sind es heute 55. Und für alle ist das auch so etwas wie eine Schule der Demokratie: die Erde des Nachbarn zu achten und zu tolerieren. „Den anderen nebenan aushalten, der möglicherweise ganz anders gärtnert. Oder dessen Sonnenblume gerade dem Mangold auf dem eigenen Beet die Sonne nimmt.“
Bernd Schumann wandert zwischen den eng beieinanderstehenden großen und kleinen Beeten umher. „Demokratie ist ein schweres Geschäft.“ Hier wird sie praktiziert auf der ehemaligen Grenze, die ja eben nur überwunden werden konnte, weil es diesen unbändigen Willen nach Freiheit und Toleranz gab. Ihm, der 1989 als Gemeindepädagoge in Eisenach mit anderen gewaltlos dafür eintrat, ist noch eins wichtig: „Unser Garten ist ein Garten des Friedens. Ein Gegenentwurf gewissermaßen zu den Kriegsfronten dieser Tage, allen voran denen in der Ukraine.“ Er hält inne, lacht: „Ein Gärtner führt keine Kriege“.
Garten und Kapelle der Versöhnung
Das passt zur großen Mystikerin Hildegard von Bingen. Der Brasilianerin Normisa Pereira da Silva ist sie besonders wichtig. Nicht nur die Heilkräuter, sondern auch ihre Lieder haben eine große Kraft, sagt sie. Das musste unbedingt her, in diesen Garten. Schließlich zeugen die Lieder der Benediktinerin von der Schönheit der Natur, vom Grün, das das Leben erhält und immer wieder erneuert.
Und so hat die 1960 in Brasilien geborene Musikerin Normisa gleich am Eingang ein Beet angelegt, auf dem unter einer Salbei-Pflanze ein kleines Bild zu sehen ist: ein Auszug aus Musik von Hildegard von Bingen mit Noten und Text in alter lateinischer Schrift. Wer großes Glück hat, kann die Flötistin Normisa hier auch mit einem spontan gespielten Stück erleben.
In der nahegelegenen Kapelle der Versöhnung hat sie eine ganze Konzertreihe veranstaltet. So wollte sie die Verbindung zwischen Garten und Kapelle deutlich machen, die zusammengehören, weil sie beide für Versöhnung stehen. Die kleine ovale Kapelle wurde an der Stelle errichtet, wo einst die stattliche Versöhnungskirche stand. An einem kalten Januartag 1985 sprengte die SED das Gebäude, weil es mitten auf dem „Todesstreifen“ stand. Die Bilder der einstürzenden Türme gingen um die Welt.
Als Normisa nach dem Mauerfall mit ihrem aus Cottbus stammenden Mann nach Berlin zog, brachte er ihr die Geschichte der Teilung noch einmal besonders nahe. Er kannte das alles hier sehr gut, den Friedhof, die unüberwindbare Mauer. „Er sagte mir: schau, hier war für mich die Welt zu Ende.“ Was für ein Einschnitt im Leben eines jungen Menschen! Dass der Garten unter freiem Himmel heute für viele auch so etwas wie eine Kapelle der Versöhnung von Menschen unterschiedlichster Nationen ist, macht Normisa besonders glücklich.
Früher Brennnesseln, heute Levkojen
So mancher Gottesdienest hat hier schon stattgefunden. Begegnungen, Feiern im „Festsaal“ unter der großen alten Linde am Ende des Gartens. Das alles ist gewachsen, niemand hat es organisiert. Doch die Erinnerung an den Anfang ist nah. Thomas Jeutner, heute Pfarrer an der Versöhnungskirche, wird diesen Moment nie vergessen. Als er sich im Februar vor neun Jahren um die Pfarrstelle der Versöhnungsgemeinde bewarb, stand er vor dem Zaun und schaute auf den ehemaligen Todesstreifen.
Brennnesseln und zwei Baumstümpfe standen da. Seine Idee: Wenn sie mich nehmen, würde ich anregen, hier einen Garten entstehen zu lassen. Eine Brücke zu den Menschen, eine Brücke zu unserer Geschichte. Ein Garten gegen die Demütigungen und Kränkungen in der DDR. Kein durchgestyltes Areal wie die nahegelegene Mauer-Gedenkstätte sollte es werden. Auch das hat Geschichte. „Widerstehen.“ Thomas Jeutner war einer der vielen, die zur Friedlichen Revolution und dem Mauerfall beitrugen. „Dass ich Bernd Schumann dann für unser Vorhaben gewinnen konnte, war ein Glücksfall“, sagt er.
„Niemandsland“ haben sie den Garten auf 1000 Quadratmetern genannt. „Die Schreibweise denkt gestern und heute zusammen: Vom Niemandsland an der Grenze im kalten Krieg zum freien Niemands-Land“, sagt der Pfarrer. Und das ist es wohl auch: das Gefühl der Freiheit, das diesen Garten so zauberhaft macht.
Titelbild: Bettina Röder
2 Kommentare
Vielen Dank für den schönen Artikel. Berührend und inspirierend! Danke all denen die das Wirklichkeit ließen und werden lassen!
Danke für diesen interessanten Artikel. ‚Gärtner führen keine Kriege‘! Dieser Satz hat mich sehr berührt, auch wenn ich weiß, dass dem leider nicht so ist. Dennoch, welch ein herrliches Projekt, aus einem Todesstreifen ein kleines Paradies zu erschaffen und damit auch ein Zeichen zu setzen, nämlich, dass kein Krieg, keine Diktatur für ewig Bestand hat. Und, in diesem Fall, gelebte Demokratie vorzuführen.
Gratulation an Frau Brigitte Röder zu diesem gelungenen, und wie Dominik es schon sagte, inspirierenden Artikel!