Wie kann Migration neu erzählt werden? In der Initiative „Zwischen den Polen“ kommen Menschen zusammen, deren Eltern aus Polen nach Deutschland ausgewandert sind. Ein Besuch.
Vor einer aus Nylonstrümpfen genähten Blüte, die ein weibliches Geschlechtsteil darstellt, unterhalten sich zwei Ausstellungsbesucherinnen. „Diese Strümpfe“, sagt die eine, „erinnern mich an meine deutsche Großmutter. Sie besaß solche Liebestöter in jeder Farbe.“ „Mir fällt dazu ein, dass diese Art von Strümpfen im sozialistischen Polen als Tauschware gehandelt wurden. Freunde, die in Polen geblieben sind, erzählten mir, dass noch lange nach dem Mauerfall deutsche Touristen versuchten, damit zu handeln – obwohl es in der Zwischenzeit die Strümpfe längst zu kaufen gab“, erwidert die andere.
An diesem Abend im Oktober ist der Vereinsraum der Initiative „Zwischen den Polen“ in der Greifenhagener Straße in Prenzlauer Berg Veranstaltungsort für die Ausstellung der Künstlerin Miray Seramet. „Es geht um die Verbindung von Gegensätzen. Für mich sind Nylonstrümpfe ein zentraler Werkstoff, der Weiblichkeit verkleidet, aber gleichzeitig zur Schau stellt. Meine Arbeitsweise ist ein Sinnbild für die eigene Identität. Meine zwei Nationalitäten sollen sich verbinden“, heißt es auf der Homepage über Seramets Arbeit. Die Künstlerin hat türkisch-deutsche Wurzeln und behandelt Themen, die für die 2007 gegründete Initiative von zentraler Bedeutung sind.
„Wir wollen uns nicht mehr mit der Frage beschäftigen, ob wir eher deutsch oder polnisch sind, weil wir eine ganz neue Mischkultur leben und das als selbstverständlich empfinden“, erzählt Alicja Orlow, die ein Mitglied des Vereins ist. Zum Profil von „Zwischen den Polen“ gehört, dass sich hier Menschen aus der zweiten Einwanderungsgeneration zusammengefunden haben, die teilweise bereits in Deutschland aufgewachsen sind und im Gegensatz zu ihren Eltern keine Behördenkämpfe und Sprachschwierigkeiten hatten. „Unsere Eltern“, sagt Orlow, „hatten soviel mit dem Ankommen in Deutschland zu tun, dass sie viele innere Konflikte nicht thematisiert haben. Diese beschäftigen jetzt ihre Kinder, die bereits in Deutschland sozialisiert wurden und nun die Geschichten ihrer Familie entdecken.“
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Jerzy ist jetzt Georg
Insbesondere die polnische Minderheit gilt in Deutschland als stark assimiliert. Obwohl polnische Staatsbürger*innen hinter der türkischen die zweitgrößte Migrationsgruppe in Berlin darstellen und laut dem Amt für Statistik Berlin Brandenburg im Dezember 2020 knapp 57.000 Berliner Bürger*innen mit polnischem Migrationshintergrund in der Stadt lebten, sind ihre kulturellen Wurzeln oftmals unsichtbar.
„Einige Familien haben zu Hause sogar aufgehört, polnisch zu sprechen oder auf der Straße geflüstert. Man wollte nicht erkannt werden, als Pole oder Polin, und hat sich regelrecht versteckt. In den 1990er Jahren war das Bild der Polen in Deutschland ziemlich negativ. Sie wollten sich und ihre Kinder vermutlich schützen und Diskriminierungen vermeiden“, erzählt Sylwia Plonka, die seit 2014 bei der Initiative ist. „Meinem Vater, der als Spätaussiedler in Deutschland registriert wurde, hat man damals angeraten, seinen Vornamen von Jerzy in Georg zu ändern, weil ihm das den Alltag in Deutschland erleichtern würde. Wie viele andere hat er diesen Rat angenommen und sich umbenannt. Auch wir Kinder konnten erst spät die polnischen Versionen unserer Namen wieder annehmen. Meine Schwester, die eigentlich Joanna heißt, war jahrelang Johanna, weil dies der deutschen Mehrheitsgesellschaft die Aussprache erleichtern sollte.“
Annäherung durch Kunst
Allerdings versteht sich „Zwischen den Polen“ nicht primär als Ort für politische Debatten, sondern für persönliche Geschichten, die auf künstlerische Weise vermittelt werden und Denkanstöße geben. So erklärt eine der Gründer*innen des Vereins, Katharina Blumberg-Stankiewicz: „Es gibt zahlreiche Initiativen, die vor allem Ausgrenzung und Diskriminierung politisch thematisieren. Uns treibt an, Migration in Bildern und Geschichten zu zeigen, bei denen es nicht zu allererst und vor allem um ein bestimmtes Problem geht. Wir schaffen Orte für Begegnungen, an denen durch den künstlerischen Zugang subjektive Perspektiven Gehör bekommen.“
Nicht immer lösen diese subjektiven Perspektiven nur positive Reaktionen aus. So betont Plonka: „Wir ernten teilweise Kritik, wenn wir das Polenbild unserer Kindheit in Gesprächen oder Kunstprojekten auferstehen lassen, weil der ein oder andere sie mit den eigenen, zeitgenössischen Erfahrungen vergleicht und sie für veraltet befindet. Dennoch sind sie Teil unserer Geschichten, die erzählt werden wollen und unsere Identität geprägt haben.“
Orlow merkt an, dass Migration in Deutschland oft noch immer negativ konnotiert sei, „anstatt in der Vielfalt eine Chance zu sehen. „’Zwischen den Polen‘ möchte diese Vielfalt zeigen und verdeutlichen, dass es kein Entweder-Oder gibt, wenn es um Identitäten geht.“ Um dies zu abzubilden und weiterzuentwickeln organisiert Zwischen den Polen unter anderem Ateliergespräche und Festivals, wie das polnisch-türkisch-deutsche Event „Liebes Wedding“ in Kooperation mit dem renk.Magazin im Jahr 2016.
Ruf der Wissenschaft
Zu den sich mehrenden Kooperationspartnerschaften unter anderem Institutionen der Wissenschaft. So beteiligte sich die Initiative an der Ausstellung „Chaos und Aufbruch – Berlin 1920/2020“ des Märkischen Museums und ist derzeit mit dem Humboldt Forum über einen Beitrag im Gespräch. Auch von Einzelpersonen, die zum Thema zweite und dritte Einwanderungsgeneration forschen, wird der Verein verstärkt kontaktiert.
Ihr Büro in der Greifenhagener Straße werden Sylwia, Alicja und Katharina demnächst räumen müssen, da ihr Mietvertrag nicht verlängert wird. Dennoch bleibt die Gründungsgeschichte von „Zwischen den Polen“ mit dem Prenzlauer Berg verwoben.
Fotos: Anna Szkoda