Eigentlich hätten Senior*innen genügend Zeit, um etwas zu unternehmen. Doch viele von ihnen schaffen es nicht mehr alleine aus ihrer Wohnung. Ein Mobilitätshilfedienst scheint für viele ältere Menschen die Rettung – auch vor der Einsamkeit und der Langeweile.
Ihre Schritte sind unsicher und langsam. Immer wieder schiebt Gertrud Strübing ihren Rollator ein Stück nach vorne, stützt sich ab und geht den nächsten Schritt. Dann das Ganze von vorne. Neben ihr läuft Ingo Michel. Sein Tempo hat er an Gertrud Strübing angepasst. Die beiden reden und lachen miteinander, während sie durch die Schonensche Straße gehen. Alles scheint wie ein normaler Spaziergang. Doch während die beiden sich unterhalten, wandert Michels Blick immer wieder zwischen Gertrud Strübing und dem Gehweg hin un her. Strübing, Gehweg, Strübing, Gehweg. Ingo Michel achtet auf Unebenheiten auf dem Weg und warnt sie davor.
Geistig ist Gertrud Strübing fit, aber ihr Körper macht nicht mehr mit. Der 83-Jährigen wird schnell schwindelig, sie hört nicht so gut und ihre Beine wollen einfach nicht mehr so, wie sie es möchte. Alles dauert einfach ein wenig länger. Ohne Hilfe würde sie oft die ganze Woche alleine in ihrer Wohnung verbringen. So wie Gertrud Strübing geht es zahlreichen älteren Menschen. Sie alle wollen raus, trauen sich aber oft nicht alleine oder können es nicht mehr – jeder Einkauf, jeder ärztliche Termin oder ein einfacher Spaziergang wird zu einem Problem.
___STEADY_PAYWALL___
Wenn wenige Millimeter zur Stolperfalle werden
„Wenn Frau Strübing alleine laufen könnte, dann würde sie das machen. Aber so fragt sie halt immer, ob jemand kommt“, sagt Ingo Michel. Während des Gehens zeigt er immer wieder auf den Boden, auf Stellen, die das Gehen für Strübing erschweren könnten. Er sieht Dinge, die vielen Menschen vermutlich gar nicht auffallen würden. So wie die einzelnen Steinplatten, die ein wenig höher stehen als andere. „Wie schnell bist du hier mal irgendwo hingeflogen?“, fragt er.
So ein Stück reiche vollkommen, sagt er und hält dabei Zeigefinger und Daumen nur wenige Millimeter auseinander. Nur ein kleiner Höhenunterschied zwischen Steinen, einzelne Schlaglöcher oder Wurzeln, die aus dem Boden ragen, könnten schnell zur Stolperfalle werden. Viele Menschen blieben mit den Füßen oder mit dem Rollator hängen. Für Menschen mit Rollstuhl sei es noch schwieriger. In einigen Situationen kämen mobil eingeschränkte Leute ohne Hilfe nicht weiter oder verletzzen sich sogar, weil sie hinfielen.
Also ergänzt Ingo Michel einfach die Seh- und die Muskelkraft von Menschen wie Gertrud Strübing. Das ist für ihn Alltag. Denn Michel arbeitet beim Mobilitätshilfedienst Pankow, einem Projekt des Sozialverbandes VdK Berlin-Brandenburg. Er und seine Kolleg*innen ermöglichen zwischen 280 und 300 älteren Menschen Mobilität, die sie aus eigener Kraft nicht mehr schaffen – etwa weil sie nicht alleine gehen oder nicht gut sehen können.
„Das können auch Menschen sein, die sich auf der Straße alleine einfach unsicher fühlen. Wir haben keine großartige Aufnahmebeschränkung“, sagt die Leiterin des Mobilitätshilfedienstes Regina Werk. Um den Mobilitätshilfedienst in Anspruch zu nehmen, bräuchten sie auch keinen Pflegegrad oder Behindertenausweis. Der Dienst koste maximal 80 Euro im Jahr. Wer ergänzende Leistungen beziehe, zahle nur 40 Euro. In der Regel kommt der Mobi-Dienst, wie er von Regina Werk und ihren Mitarbeitenden auch genannt wird, dann einmal in der Woche bei den Senior*innen vorbei. Während Werk den Überblick behält und die Einsätze von der Schonenschen Straße aus koordiniert, gehen Michel und seine Kolleg*innen zu den Leuten nach Hause.
Michel holt die Menschen aus der Wohnung ab. Meist haken sie sich auf der einen Seite bei ihm unter und halten sich auf der anderen Seite an der Treppe fest. Wenn ein Rollator benötigt wird, dann bringt er auch den runter. Sitzen Senior*innen im Rollstuhl, kommt eine mobile Treppensteighilfe zum Einsatz, die Michel an den Rollstuhl montiert. Damit kann er die Leute im Rollstuhl sitzend Treppenstufe für Treppenstufe hoch- und runterbringen. Danach geht er mit ihnen einkaufen, zu Ärzt*innen oder einfach mal spazieren.
Alleine sein schmerzt
Gertrud Strübing war nicht immer auf den Mobi-Dienst angewiesen. Nach einem Oberschenkelhalsbruch und einem Reha-Aufenthalt, suchte ihre Tochter Anfang 2018 nach Hilfsangeboten. Schließlich erzählte eine Pflegekraft etwas vom Mobi-Dienst. Seitdem hat Gertrud Strübing diesen schon zahlreiche Male in Anspruch genommen. Und jedes Mal freut sie sich. Auch heute wieder. „Ich möchte doch nur ein bisschen laufen. Von jung an habe ich nur gearbeitet und jetzt bin ich ganz alleine. Und wissen Sie wie weh das tut, wenn man die ganze Woche alleine ist?“, fragt sie leise und guckt weg. Verschämt erzählt sie, dass sie auch schonmal nachfrage, ob der Mobi-Dienst nicht öfter kommen könne.
„Die ist ja ganz pflegeleicht“, sagt Michel und zwinkert Strübing zu. Dann fangen beide an zu lachen. So geht das die ganze Zeit zwischen den Beiden. Wirkt Strübing traurig, macht Michel einen Witz oder ermuntert sie weiterzusprechen. Dann fliegen die Sätze zwischen den beiden nur so hin und her. Es wirkt fast ein bisschen wie Pingpong. Oft ist Michel so nicht nur Mobilitätshelfer, sondern auch Unterhalter. Doch ihm gefällt es, seinen Klient*innen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, wie er sagt.
Wenn der Pflegedienst komme, gucke der oft nur auf die Uhr: Zwei Minuten zum Anziehen der Strümpfe. 5 Minuten, um Frühstück zu machen. Wenn sonst keiner da sei und Senior*innen nicht mehr alleine rausgehen könnten, vereinsamten viele, kritisiert er. „Und wenn ältere Menschen oft zu Hause sind, werden sie nicht mehr gesehen. Das ist traurig“, ergänzt Werk. Es müsse einfach mehr Angebote geben, die auch bekannt gemacht würden. So hätten mehr Senior*innen die Möglichkeit rauszukommen und etwas zu erleben. Doch der Mobilitätshilfedienst habe immer wieder das Problem, ältere Menschen überhaupt zu erreichen. Sie fordert, dass die Politik sich des Themas annimmt und Vernetzungsstrukturen schafft.
Ausflüge gegen die Langeweile
„Jeden Tag Fernsehen gucken ist auch für den Hintern. Naja, ist doch wahr“, sagt Strübing und gluckst vor sich hin. Sie wolle auch mal was erleben und andere Leute treffen. Aus diesem Grund macht der Mobi-Dienst auch regelmäßig Ausflüge, an denen die Senior*innen teilnehmen können. Dann geht es alle 14 Tage in den Tierpark, auf eine Dampferfahrt oder gar zum Stechlinsee in Brandenburg. Als sie hört, dass bald wieder ein Ausflug geplant sei, meldet sie sich noch schnell bei Werk an, bevor sie sich auf den Weg nach Hause macht. Während Strübing sich ihre Jacke anzieht, ist Michel schon startklar. Die beiden scheinen ein eingespieltes Team zu sein.
Ingo Michel geht automatisch vor, öffnet Strübing die Türen, trägt ihr den Rollator ein paar Treppenstufen hinunter. Danach hilft er Strübing selbst. Der Rollator steht schon parat. Strübing legt ihre Tasche in den Korb und befestigt sie zur Sicherheit am Griff. Dann machen sich die beiden auf den Weg nach Hause. Gertrud Strübing schiebt ihren Rollator ein Stück nach vorne, stützt sich auf und zieht ihre Füße nach. Die Augen von Ingo Michel wandern automatisch wieder zwischen Strübing und Gehweg hin und her.
Titelfoto: Christina Heuschen