Unser Autor glaubt an einer Kreuzung zu wohnen, an der sehr viele Unfälle passieren. Zumindest an einer, die gefährlich ist. Stimmt das? Eine Analyse zwischen Wahrnehmung und Tatsache.
Kurz und dumpf ist das blecherne Geräusch. Es kracht, vielleicht ist noch scharfes Bremsen zu hören, manchmal vernimmt man zusätzlich einen kurzen Aufschrei. Nach ein, zwei Sekunden: Stille. Aber wenn man in seiner Wohnung am Schreibtisch sitzt oder seinen alltäglichen Dingen nachgeht, schießt einem, während man das typische Geräusch eines Verkehrsunfalls hört, nur ein Gedanke in den Kopf: Schon wieder! Denn sofort ist klar, ohne es gesehen zu haben, dass es erneut einen Unfall gegeben hat. Man tritt ans Fenster und sogleich ist da der zweite Gedanke: Hoffentlich ist nichts Schlimmeres passiert. Meistens hat sich schon ein Pulk von helfenden Menschen gebildet, ein Auto steht quer auf der Straße oder gar auf dem Bürgersteig, ein Fahrrad liegt auf dem Boden.
So ist es mir unzählige Male gegangen. Seit 12 Jahren wohne ich direkt an der Wisbyer Straße/ Ecke Gudvanger Straße und blicke auf diese infrastrukturelle Fülle. Nicht nur, dass in beiden Richtungen die Fahrbahn zweispurig ist und jede dieser Fahrbahnen einen Fahrradweg besitzt; hinzu kommen die Schienen der Tram M13 und 12 und die dazugehörige Insel, um jeweils auf die andere Seite der Wisbyer Straße zu gelangen. Auch aus der Gudvanger Straße und der Talstraße kommend besteht die Möglichkeit, die Wisbyer Straße zu überqueren.
Der letzten Unfall, den ich von der Küche aus gehört habe, war Anfang April. Das typische Geräusch ertönte und am Ende hatte ein Auto, das von der Verkehrsinsel die Wisbyer Straße überqueren und in die Gudvanger Straße wollte, eine Fahrrad fahrende Mutter mit Kind getroffen. Das Kind weinte, aber augenscheinlich war nichts Schlimmeres passiert – glücklicherweise. Und im Gegensatz zu den zwei Radfahrerinnen, die erst kürzlich im Prenzlauer Berg und Friedrichshain nach Verkehrsunfällen mit Lastkraftwagen starben. Derartige Unfälle sind vor meiner Haustür noch nicht passiert. Aber jedes Mal frage ich mich, ob hier besonders viele Verkehrsunfälle stattfinden. Es kommen Fragen auf: Haben sich Bezirksamt oder Senat schon einmal mit dieser Kreuzung beschäftigt? Gibt es überhaupt verhältnismäßig viele Unfälle an dieser Kreuzung oder ist das nur der subjektive Eindruck?
Der eigene Eindruck kann täuschen. Und so frage ich erst einmal die Nachbarschaft. Anja schreibt: „Wir wohnen auch direkt an der Kreuzung und hatten schon viele viele Male den Blick auf all die Rettungskräfte. Wir finden es erschreckend, dass einfach nichts passiert. Mittlerweile nehmen wir Umwege in Kauf (zu Fuß oder mit dem Auto), um diese Kreuzung zu meiden. Ein Glück, wir waren noch nie in einen Unfall verwickelt, ich war jedoch vor ein paar Wochen als Ersthelfer involviert.“ Ilona antwortet: „Besonders in den letzten Jahren ist es eine echt gefährliche Ecke geworden, unter anderem auch durch die oftmals langen Busse des Schienenersatzverkehrs.“ Emilie gibt zu Protokoll: „Die Unfälle haben definitiv zugenommen und man kommt als Fußgänger, wenn man zum Beispiel zu Penny möchte, kaum noch rüber! Die Kreuzung ist übrigens auch ein Grund, warum wir uns gegen eine tolle Kita entschieden haben. Wir müssten sonst zweimal täglich mit unserer Tochter über diese Kreuzung.“
Ich frage bei der Berliner Polizei nach, um ein paar Zahlen zu haben. Und siehe da: Die besagte Kreuzung ist nicht die mit den meisten Unfällen. Eine der unfallreichsten liegt allerdings nur etwa 150 Meter weit entfernt: Mit 226 Unfällen im Zeitraum von 2018 bis zum ersten Quartal des Jahres 2021 gehört die Kreuzung Ostseestraße/Prenzlauer Allee/Prenzlauer Promenade/Wisbyer Straße zu den gefährlichsten Knotenpunkten im Prenzlauer Berg. Im selben Zeitraum verzeichnet der Abschnitt Wisbyer Straße/Gudvanger Straße/Talstraße immerhin 86 Unfälle, davon im ersten Quartal 2021 bereits sieben. Nicht eingerechnet sind so genannte Semi-Unfälle: Unfälle, die nicht präventionsrelevant sind, weil sie immer passieren werden – beispielsweise wenn ein fahrendes Auto ein parkendes Auto touchiert. So ganz falsch jedenfalls scheint Bewohnerin Pauline nicht zu liegen, die mir schreibt: „Ich finde den ganzen Abschnitt zwischen Prenzlauer Allee/Talstraße und Gudvanger Straße auch kreuzgefährlich und vor allem auf der Nordseite total unübersichtlich. Nicht nur, aber auch für Fußgänger.“
Vergleichbar ist die Kreuzung vor meinem Haus in der Unfallstatistik mit anderen Kreuzungen im Prenzlauer Berg, so etwa mit den Knotenpunkten Greifswalder Straße/Otto-Braun-Straße/Am Friedrichshain (wo im Mai eine der Radfahrerinnen ums Leben kam) oder Greifswalder Straße/Grellstraße/Storkower Straße. Mit Kreuzungen also, die ein Ampelsystem aufweisen. Die besagte Kreuzung allerdings führt von der Wisbyer Straße aus nur in zwei Wohnstraßen und besitzt kein Ampelsystem. Ist das noch als positiv anzusehen, dass an der Kreuzung vor meinem Haus ohne Ampeln genauso so viele Unfälle stattfinden wie an Kreuzungen mit Ampeln? Kann es sein, dass eine Kreuzung als bedrohlicher angesehen wird, als die Statistik es verdeutlicht? Die Frage geht an einen Stadtplaner, der antwortet: „Oft ist es so, dass gefährlich wahrgenommene Verkehrszustände besonders unfallarm sind, weil alle Verkehrsteilnehmer*innen besonders aufmerksam sind. Die erhöhte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit führt dann oft zu einem sehr risikoscheuen und vorsichtigen Verhalten.“
Farbige Radwege, Wartelinien, Verkehrsschilder
Der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz jedenfalls ist die Kreuzung Wisbyer Straße/Talstraße/Gudvanger Straße als Unfallhäufungsstelle bekannt, so Pressesprecher Jan Thomsen. Die Unfallkommission, ein gemeinsames Gremium von Haupt- und Bezirksverwaltungen, hatte sich bereits 2019 mit ihr befasst. Meistens, so Thomsen, verwickeln sich mehrere Autos in einen Unfall bei einem Fahrstreifenwechsel oder Radfahrende werden gefährdet, weil ihre Berechtigung zur Vorfahrt missachtet wird. Und was ist mit jenen, die zu Fuß gehen? Nicht nur Pauline hat es angesprochen, auch Christin schreibt mir: „Wir benutzen die Kreuzung täglich. Mein subjektiver Eindruck ist, dass dort pro Woche ein Unfall passiert. Die Seite, die zur Ostseestraße führt, ist regelmäßig zugestaut. Die Kreuzung allgemein ist sehr unübersichtlich. Meine Kinder (Grundschulalter) gehen dort allein nicht rüber, obwohl es der kürzeste Weg zur Schule ist.“
Fragt man Jan Thomsen, welche Maßnahmen bereits getätigt wurden, um die Anzahl der Unfälle zu verringern und den Bürgern die sichere Überquerung der Wisbyer Straße zu gewährleisten, schreibt er: „Unfälle mit querenden Fußgänger*innen sind nicht bekannt geworden, so dass unter diesem Aspekt bisher keine Maßnahmen beschlossen wurden.“ Politik also als Reaktion auf Ereignisse? Die zu Fuß Gehenden brauchen demzufolge nichts erwarten, sondern müssen weiterhin Glück haben, Gott vertrauen oder hoffen, dass das Schicksal es gut mit ihnen meint, wenn beispielsweise durch einen Verkehrsunfall mal wieder ein Auto durch den Aufprall auf den Bürgersteig zum Stehen kommt? Immerhin wurden die sogenannten Radfurten mit roter Signalfarbe markiert. Dazu sagt der Stadtplaner: „Ein Sicherheitseffekt der Fahrradmarkierung ist mir nicht bekannt. Es geht dabei eher um die deutliche Markierung der einzelnen Verkehrsbereiche.“ Prinzipiell, fügt er noch hinzu, ist ein Fahrradweg auf der Straße immer sicherer, auch wenn es sich nicht so anfühlt.
Was wurde noch durchgeführt? Thomsen schreibt dazu: „Um den Verkehr im Kreuzungsinnenbereich sicherer zu führen, wurden hier Wartelinien markiert, die zu einer erhöhten Aufmerksamkeit führen sollen. Im Bereich des Mittelstreifens wurden außerdem zusätzliche Vorfahrt-achten-Schilder aufgestellt.“ Im Kreuzungsinnenbereich fährt die Tram, nur sagt die Statistik, dass es zwischen 2018 und 2020 nur einen Unfall im Zusammenhang mit der Tram gab, in diesem Jahr noch keinen. Was also ist mit jenen, die Auto oder Fahrrad fahren, und den zu Fuß Gehenden? Weitere Maßnahmen, so Thomsen, sind momentan nicht geplant, sind aber nicht ausgeschlossen.
Einmal muss Pauline noch zu Wort kommen, denn sie kann nicht nachvollziehen, „warum das Tempo auf dem Stück nicht zur Zeit – oder auch permanent – auf 30 gedrosselt wird.“ Wolfgang allerdings, der wie Silke etwa 20 Jahre hier wohnt und bisher keinen Unfall erlebt hat, insistiert: „Warum auf 30 drosseln, wenn in den Hauptzeiten eh alles steht? Der Rückstau reicht ja weit über die besagte Kreuzung. Soll der Straßenbahnübergang beschrankt werden? Bei regelkonformen Verhalten aller Verkehrsteilnehmer würde sich die Situation entschärfen, ist bei dem wachsenden Egoismus aber Illusion!“ Eine ähnliche Frage ging auch an die Senatsverwaltung, denn die Strecke von der Stahlheimer Straße bis zur Kreuzung an der Prenzlauer Allee – und umgekehrt – lädt zur Beschleunigung ein, die untersuchte Kreuzung liegt genau in der Mitte. Immerhin: Aktuell wird geprüft, ob Ausnahmen von der StVO-Vorgabe von Tempo 50 bestehen.
Und weil viel und lange geprüft wird und wir die Zukunft alle nicht kennen, noch eine kleine Utopie des Stadtplaners: „Je ein überbreiter Fahrstreifen je Richtung (zwei Autos können nebeneinander fahren, aber keine zwei LKW), das Queren der Mittelinsel wird für den motorisierter Individualverkehr vollständig untersagt (Ausnahme für Versorgungs- und Rettungsfahrzeuge). Für blinde Menschen kommt eine Fußgänger-Lichtsignalanlage , die können nämlich sonst niemals queren. Alternative dazu: im Kreuzungsbereich Tempo 30 mit Blitzer – wir sind immerhin in Berlin …“ Ja, wir sind in Berlin in der Wisbyer Straße, wo gerade die Tram mit einem lauten, mehrmaligen Läuten einen Fußgänger, einen Radfahrer oder ein Auto auf sich aufmerksam macht. Vielmehr: Ein Mensch, der das Verkehrsmittel bedient, gibt das Signal.
Titelfoto: Peter Schulz