Joachim Bayer

Reich sein, wenn es reicht

von Peter Schulz 15. April 2021

Der Künstler Joachim Bayer ist im Prenzlauer Berg geboren. Nie hat er woanders gelebt, er war immer hier und malt seit Jahrzehnten. Von einem, dem das Sein wichtiger ist als das Haben.


Während ich mein Fahrrad vor dem Haus der Oderberger Straße 23 anschließe, tritt aus der Haustür ein schräger Typ mit lockerem Gang und grinsendem Gesicht, in der Hand hält er zwei Plastiktüten. Er vermutet in mir einen Bewohner des Hauses, will die Tür für mich offen halten, doch ich sage nur, dass ich zum Künstler möchte und klingeln werde. Er lacht laut und überraschend auf: „Zum Künstler?“ Es scheint, als habe er von Joachim Bayer noch nie gehört, geht dann schnell seiner Wege – hinein in einen der ersten Frühlingstage dieses Jahres –, und dreht sich noch einmal grinsend zu mir um.

Dass Joachim Bayer hier in einer Zweiraumwohnung malt, ist nicht sofort ersichtlich, aber so überraschend vielleicht dann doch nicht, als er die Tür öffnet. Man tritt in eine Wohnung, die auch Atelier ist, oder in ein Atelier, das auch Wohnung ist. Und der 70-Jährige sagt sogleich: „Ich hatte nie ein Atelier außerhalb der Wohnung.“ Natürlich stand immer wieder die Frage im Raum, ob er sich eines mieten sollte, das wiederum bezahlt werden muss. „Soll ich dann“, fragt er eher rhetorisch, „abends wieder nach Hause gehen und ein bisschen wohnen?“ Schnell war ihm klar: Wo er lebt, wird er auch arbeiten. In der Oderberger Straße malt und zeichnet er seit 2003.

Und so sitzt Joachim Bayer jetzt in seinem Arbeitszimmer bei offenem Fenster, Zigaretten und Kaffee in einem ledernen Bürostuhl und erzählt. Erzählt, bei nachmittäglichem Kinderspielgeschrei und vorfrühlingshaftem Vogelgezwitscher draußen, dass er 1950 in der Lottumstraße geboren und in ärmlichen Verhältnissen ohne Dusche und Bad aufgewachsen ist, aber die Situation der Familie privilegiert war, weil der Vater als Polsterer in West-Berlin gearbeitet hat. Dennoch: Der Vater hat in der Küche ins Waschbecken gepinkelt und danach hat die Mutter dort die Kartoffeln abgegossen. So war das, es war normal – eine Kindheit in den 50er Jahren. Eine Kindheit, in der die Eltern viel gestritten haben, mal getrennt, dann wieder zusammen waren. So verbrachte der kleine Joachim viel Zeit bei seinen Großeltern in der jetzigen Torstraße.

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Der Preis der Freiheit

Was ist Armut, was Reichtum? Mehr Haben oder mehr Sein? Und wer bestimmt den Erfolg und die Popularität? So mag Joachim Bayer rückblickend in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen sein, heute lebt er von weniger als 1000 Euro pro Monat und sagt: „Reich ist man, wenn es reicht!“ Und genug hat er immer gehabt, erzählt er, in diesem wohlhabenden Land immer: „Mit relativ wenig kommt man ganz gut aus, wenn man keine übertriebenen Ansprüche hat.“ Um jeden Preis jedenfalls verkauft Bayer seine Bilder nicht, auch wenn manch einer ihm dazu rät. „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“, sagt Hegel. Joachim Bayer sagt: „Nee, ick muss jar nüscht verkoofen. Ick bin froh, wenn ich noch 10 Jahre arbeiten kann.“

Gerade malt Joachim Bayer an einer Gischt. Das schaufenstergroße Bild füllt das Zimmer, steht auf einer Staffelei und wir sitzen dieser Gischt zu Füßen. Mindestens einen Monat braucht er für so ein Bild, aber genau kann auch er das nicht sagen. Was er genau sagen kann: Jeden Morgen vor der ersten Zigarette muss er ein Kohlebild zeichnen. Bei ihm zu Hause sind es meistens halbe Äpfel, ein paar Tomaten, eine einsame Zwiebel. Bei seiner Freundin in Weißensee Pflanzen, vielmehr Pflanzenteile, Details, die er sieht. Oft sind auf diesen Zeichnungen ein, zwei schwarze Punkte zu sehen – einfach so, weil er es schön findet. Das Gischt-Bild soll am Ende 9.000 Euro kosten, bedenkt man alle Faktoren des Kunstmarktes. Das ist eher wenig, sagt Bayer.

Mit wenig musste die Familie immer noch auskommen, nachdem sie von der Lottumstraße in die Schliemannstraße zog. Das war Ende der 50er Jahre, Joachim Bayer war damals ein Schuljunge und heute urteilt er: „Auch ne schreckliche Wohnung, über einem Bäcker!“ Eineinhalb Zimmer mit den Eltern zusammen, Außenklo und fürchterlich knarrenden Dielen, weil von unten die Hitze der Öfen ins Holz kroch. Dann grinst er ein wenig und sagt auf einmal: „Damals stand ich schon mal in der Zeitung.“ Da war Bayer acht oder neun Jahre alt. Der Großvater klopft ihm auf die Schulter mit der Kunde, dass der Bäcker sich beschwert hat und die Zeitung davon berichtet. Nur warum? Es wird bekannt: Bei einem Toilettengang benötigt der Junge mehr Toilettenpapier, das früher vor allem Zeitungspapier war, als gewöhnlich. Er hat Angst, das Klo zu verstopfen und schmeißt die schmutzigen Zeitungsseiten aus dem Fenster. Diese segeln ausgerechnet auf die frischen Kuchenbleche, die zum Abkühlen auf den außen befestigten Metallstangen gestellt worden sind. „War der Bäcker natürlich nicht begeistert … von seinem Scheißkuchen“, lacht Joachim Bayer schelmisch.

 

Vom Elektriker zum Künstler

Gelacht hat Joachim Bayer nicht, als er als 16-Jähriger am ersten Tag seiner Elektriker-Lehre auf Anweisung des Oberlehrmeisters sofort die langen Haare abzuschneiden hat. Eigentlich will Bayer Dekorateur werden. Zu unsolide, befinden die Eltern, er solle sich was anderes suchen. Zum Beruf des Elektrikers kommt er, in dem er mit dem Finger die Liste der Berufe durchgeht und bei Elektriker stehenbleibt. So schnell entstehen Entscheidungen. Man ahnt: Die Zeit der Lehre übersteht er notgedrungen, macht nebenbei wenigstens das Abitur an der Volkshochschule und kündigt sofort, als die Lehre beendet ist. Danach verdient Joachim Bayer einfach mit verschiedenen Jobs sein Geld.

In der DDR war das Leben anders, Geld spielte nicht so eine große Rolle, berichtet Bayer. Wenn man kein Geld hatte, hat man sich schnell einen Job gesucht. Außerdem wurde er nach dem Kunststudium im Verband Bildender Künstler der DDR aufgenommen, der dafür sorgte, dass man jedes Jahr ein paar Aufträge hatte: ein Arbeiter-Porträt, ein großes Bild für einen U-Bahnhof, ein Stillleben für eine Institution. „Dann hatte man für lange Zeit sein Auskommen. Das war nicht das Problem. Problem war eher, dass wir nicht rauskamen“, sagt Bayer. In dem Zusammenhang erzählt er von Westbesuch, der mit großem Auto und Schampus vorfuhr, als er in einer Art Kommune in der Schwedter Straße wohnte. Später stellte sich heraus: Das Auto war geliehen, der Schampus bei Aldi gekauft. Bayer fragte sich damals: „Was isn ditt?“ Und sagt heute: „Der war wahrscheinlich verschuldet. Der schöne Schein des Westens … Jetzt leben wir in dieser, in Anführungszeichen, normalen Welt. Und damals haben wir angeblich in einer unnormalen Welt gelebt.“

Aber wann wusste Joachim Bayer, dass er Künstler werden will? An Kunst war in der Lehre jedenfalls noch nicht zu denken, bis auf die Band vielleicht, in der er als junger Mann spielte, wenn überhaupt. Aber, sagt Bayer, mit der Musik wäre es eh nicht gut gegangen. Wie sich aber die Dinge fügen: In dem Haus, in dem zwei Musiker der Band damals wohnen, riecht es stets nach Ölfarbe. Kunst entsteht hier. Irgendwann kommt es zu einem Treffen, man kennt sich als Nachbarn, besucht den Maler öfter. Und Joachim Bayer begreift erst überhaupt nicht, wieso dieser Mensch so etwas macht, was Kunst ist. Aber allmählich fragt er sich, ob er das auch kann und will.

 

Anfänge bei der Armee, nie unter Wert verkaufen

Ausgerechnet in seiner Armeezeit hat Bayer die Gelegenheit, sich im Zeichnen auszuprobieren, nachdem der Wunsch in ihm mehr und mehr wächst. Nach Lehre und Gelegenheitsjobs wird er 1973 eingezogen; versieht tagsüber seinen Dienst und zeichnet in seiner Freizeit, von der genug vorhanden ist. Er zeichnet vieles mehrmals, die schlechte Zeichnung verschenkt er an die Männer, die sie wiederum an ihre Frauen schicken; die guten Zeichnungen behält er für die spätere Mappe, die er einreichen wird an der Kunsthochschule in Weißensee. Der erste Versuch scheitert, bei der zweiten Bewerbung wird er angenommen – ein halbes Jahr vor Ende der Armeezeit. Ab 1975 studiert Joachim Bayer also fünf Jahre Malerei und ist seitdem freischaffender Maler.

Als freiberuflicher Künstler war es nach der Wende schwierig. Einfach zu einem Galeristen gehen konnte man nicht. Auch die Sichtweise hatte sich verschärft. Oft hörte Joachim Bayer: Du musst jetzt berühmt werden, dann hast du genug Geld. „Aber viele haben an ihren Prinzipien festgehalten“, sagt der heute 70-Jährige. Irgendwann sind auf ihn ein paar Galerien aufmerksam geworden, die seine Kunst ausstellten und zu verkaufen versuchten. „Mit der Zeit“, sagt Bayer, „ging es dann, aber immer nach dem Motto: Reich ist man, wenn es reicht.“ Ja, er hat sich oft durchgeschlagen, aber seine Bilder oder sich unter Wert verkaufen, danach steht ihm nicht der Sinn.

Malen und Zeichnen muss er eh immer, unabhängig vom Verkauf. Und wenn er morgens, vor der ersten Zigarette, Obst und Gemüse zeichnet, dann kann es sein, dass Bayer nachmittags im Café gegenüber das Treiben auf der Straße mit Kohle festhält. „Aber“, berlinert er jetzt, „keen Schween interessiert sich dafür. Entweder kieken se in ihre Kinderwagen oder auf ihre Handys. Oder beides!“ Ja, der Prenzlauer Berg hat sich total verändert, der alte Prenzlauer Berg ist weg, stellt er ohne Groll fest. Früher hat er auch von einer kleinen Teestube mit guter Musik geträumt. Die Läden waren ja leer, aber „jetzt gibts hier Millionen von Kneipen und kleinen Läden“. Den Verdrängungsprozess der alten Bürger findet er nicht wünschenswert, aber Joachim Bayer sagt auch: „Die Zeiten verändern sich, die Situationen verändern sich.“ Trotz und dennoch: Er ist hier aufgewachsen, er hängt am Prenzlauer Berg.

 

„Ich lebe schon immer In Quarantäne“

Aber gerade ist Pandemie, auch im Prenzlauer Berg. Es gibt keine Touristen, die ihn am Fenster mit Pinsel in der sagenumwobenen Straße fotografieren, er muss nicht in der Küche schlafen, weil vorne im Schlafzimmer zu viel Kneipen- und Straßenlärm den Nachtschlaf stört. Für ihn hat sich nichts geändert: „Ich lebe schon immer in Quarantäne“, sagt Bayer und lacht dabei. Außer wenn er seine Freundin in Weißensee besucht. Ansonsten malt und zeichnet er in seiner Wohnung mit wenig oder keinen Kontakten.

Am Ende gehen wir noch in sein Schlafzimmer, wo seine Bilder mit Nummern versehen und ordentlich sortiert in Regalen lagern. Und dann sagt Joachim Bayer auf einmal den schönen Satz: „Das Einfachste ist für mich das Wertvollste.“ Er weiß, dass er sich nie sonderlich um Ruhm bemüht hat, es war ihm auch nicht wichtig. Wichtiger ist, dass er sich nicht anbiedern musste. Und heute hat er gar nichts mehr nötig. Unabdingbar ist nur noch, dass er täglich – so lange es das Alter zulässt – malen und zeichnen muss, hier hinter den Mauern dieses Hauses der Oderberger Straße, in dem nicht nur gewohnt wird, auch wenn viele es vermuten.

 

Titelbild: Peter Schulz

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2 Kommentare

Henning 15. April 2021 at 16:22

Ein sehr gutes kleines Portrait, habe ich gern gelesen. Vielen Dank!

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Tilman 16. April 2021 at 8:36

Ein Portrait von einem Maler, in dem man kein einziges Bild von ihm sieht?

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