Greifswalder / Fabrik / Treffmodelle

Von DDR-Blazern, Indie-Tanzmusik und britischen Investoren

von Mona Linke 30. März 2021

Bis zur Wende wurde in der Greifswalder Straße DDR-Damenmode hergestellt – auch für den “Klassenfeind”. Nach dem Mauerfall kamen die Künstler*innen – und 2007 ein liquider Investor.


Es war ein Klofenster im vierten Obergeschoss, auf dem Dieter Eberding vor rund 20 Jahren zum ersten Mal das Wort “Treffmodelle” las. Der Hausmeister oder ein Glaser musste es hastig mit Kreide auf die Scheibe gemalt haben, vermutet Eberding heute. Anstelle der eigentlichen Adresse Greifswalder Straße 212/213. Der heute 64-Jährige wusste mit dem Schriftzug erst einmal nichts anzufangen. Genauso wenig wie mit der eindimensionalen Dame in rotem Mantel, die als leuchtendes Werbeschild wie selbstverständlich an der Fassade hing. Beides waren Überbleibsel des Unternehmens VEB Treffmodelle – jene Textilfirma, die weit über die Grenzen der DDR hinaus berühmt war für ihre “schwere Oberbekleidung”, die damals in den Räumen des Gewerbehofs in Akkordarbeit produziert und sogar in den Westen exportiert wurde.

Dieter Eberding, selbst von 2001 bis 2007 Mieter im Gewerbehof Greifswalder Straße, sollte schon bald herausfinden, was vor seiner Zeit hinter den schweren Fabrikmauern vor sich gegangen war. Denn der Berliner hatte damals “viel Zeit”, erzählt er heute. Als freiberuflicher Architekt war die Auftragslage für ihn Anfang der 2000er überschaubar – die Miete in seinem kleinen Büro in der heutigen “Fabrik” ebenfalls: 104 Euro und 40 Cent zahlte Eberding für seinen 12 Quadratmeter großen Gewerberaum, den er rückblickend liebevoll “ein kleines Kabuff” nennt – ein mit Glaswänden von den anderen Räumen getrennter Bereich mit sechs Meter hohen Decken und schlechter Beheizung. Nebenan mieteten seine Architekten-Kollegen, die er teilweise noch aus dem Studium kannte.

Was sie hierher verschlagen hatte? Nun ja, die Freiberufler hatten einfach keine Lust mehr, vom heimischen Schreibtisch aus zu arbeiten. Was sich in den Jahrzehnten vor seinem Einzug in die “Fabrik” in dem alten Backsteingebäude abgespielt hatte, erfuhr er das erste Mal von dem damaligen Hausmeister. Dieser berichtete Eberding von der jüdischen Fabrikantenfamilie Rochmann, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts an der Greifswalder Straße ein kleines Zigaretten-Imperium aufgebaut hatte.

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Nach dem Weltkrieg kam die DDR-Mode

Eberding genügte das nicht. Er ging auf Spurensuche und durchforstete 100 Jahre alte Archive, stöberte in alten Adressbüchern und arbeitete so quasi “nebenbei” die Geschichte des Gebäudeensembles seit Ende des 19. Jahrhunderts auf. Entstanden ist – teilweise in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Museum Berlin – eine über 60-seitige Studie, die von türkischem Tabak über auberginefarbene Blazer bis hin zu Bildhauern, Schauspielern und dem Tanzclub Magnet reicht, einst Prenzlauer Bergs beliebtester Indie-Club. Schnell merkte Eberding, dass die Geschichte der “Fabrik” nicht mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Enteignung der jüdischen Fabrikanten endete. Viel mehr brach damals eine gänzlich neue Epoche für den Gebäudekomplex an: die der DDR-Mode.

Doch von vorne. Bis überhaupt richtige Mode an der Greifswalder Straße gefertigt wurde, dauerte es eine Zeit: Ab 1935 vermietete die Firma Reemtsma, seit 1929 Eigentümer, den Komplex an das Reichsarbeitsdienst Bekleidungsamt. Die Textilfirma P. Opalla ließ dort Polizei- und Wehrmachtsuniformen für deutsche Soldaten nähen, bis nach Ende des Krieges die sowjetische Besatzungsmacht übernahm und das Gelände beschlagnahmte. Der Betrieb Opalla fiel in die Hände einer Treuhandgesellschaft und wurde entnazifiziert.

Fabrik Greifswalder Straße

Die „Fabrik“ an der Greifswalder Straße heute. Foto: Mona Linke

 

Ein großer Kunde war der „Klassenfeind“

Kurze Zeit später, mit der Gründung der DDR 1949, ging das Grundstück in Staatseigentum über; Reemtsma und die Bekleidungsfirma Opalla wurden “zum Schutz des Volkseigentums” enteignet, wie es aus Eberdings Untersuchungen hervorgeht. Es übernahmen die Vereinigten Volkseigenen Betriebe Leichtindustrie Berlin (VVBB) und richteten einen neuen Standort für den VEB Textilbetrieb Fortschritt ein, der bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Lichtenberg Herrenkleidung fertigte und mit den Jahren zum größten Hersteller für Herrenkonfektion in der DDR herangewachsen war. Und weil an der Greifswalder Straße ohnehin schon genäht wurde (wenn auch Uniformen), bot sich der Komplex als neuer Standort an. Ab 1953 wurde auch Damenmode in den Hallen geschneidert, und zwar “schwere Oberbekleidung”, will meinen: Wollmäntel, Blazer, Trenchcoats, teilweise aber auch Hosen und Röcke.

Als “elegant und treffend”, wurden sie auf manch einem Werbeplakat angepriesen, das Eberding in seine Studie aufgenommen hat. Heute können die flauschigen Mäntel und kastigen Blazer vermutlich nur noch das Herz eines “Ostalgie-Liebhabers” erwärmen. Fast 60 Prozent der Mode wurde ins sowjetische Ausland exportiert. Ansonsten war ausgerechnet er ein großer Kunde: der “Klassenfeind”. Denn sowohl in Westberlin als auch in Westdeutschland, ja sogar in Westeuropa waren die “Treffmodelle” überaus beliebt. BRD-Warenhausketten wie Neckermann und Quelle konnten gar nicht genug von der DDR-Mode kriegen, berichtet Eberding: “Die Westkaufhäuser sind dort an die Rampe gefahren und haben gekauft bis zum Geht-nicht-mehr. Für einen schmalen Taler, versteht sich. Trotzdem: Für die DDR hat es sich mehr als gelohnt, ließen sich so doch ordentlich Devisen abschöpfen ”, sagt der Architekt.

 

Mit dem Mauerfall war das Ende der Firma besiegelt

Ein lohnenswertes Geschäft war es offensichtlich. Der sozialistische Staat investierte massiv in die Textilfabrik: Ab 1980 wurde der Komplex modernisiert, erweitert und ausgebaut, es entstanden ein Treppenhaus und Aufzüge, Laderampen nach neuesten Standards und neue Fabriksäle, wie aus Eberdings Studie hervorgeht. Neue Maschinen wurden angeschafft und mehr und mehr Leute eingestellt. Fast 400.000 Kleidungsstücke gingen in Hochzeiten pro Jahr übers Fließband, während zeitweise um die 1200 Mitarbeiter*innen dort arbeiteten. Nur drei Jahre vor dem Mauerfall richtete das Planungskollektiv der DDR Ladengeschäfte im Vorderhaus ein, denn auch nach außen hin sollte der Textilbetrieb direkt erkennbar sein – und so prangte seither die drei Worte “flott, modisch, schick” in roter Leuchtschrift über den Eingangstüren.

Natürlich durfte auch die Dame im knallroten Mantel nicht fehlen, das Markenzeiten des VEB Treffmodelle. Noch bis 2006 sollte als als Leuchtschild an der Außenfassade hängen bleiben – obwohl das Ende der Firma mit der mit dem Mauerfall bereits besiegelt war. Für kurze Zeit versuchte sich eine Modefirma aus Charlottenburg an dem Standort; der neuen Marke jedoch gelang es nicht, sich am Markt zu etablieren. Ab 1991 schließlich übernahm die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft (TLG) die Verwaltung der alten Textilfirma. Es folgten Jahre des weitgehenden Leerstands, bis 2002 hatten sich nur einige wenige Firmen auf dem Grundstück angesiedelt, darunter Sanitärfirmen, Lager- und Bürobetriebe.

 

Viele wollten sich nicht vertreiben lassen

Erst 2002 dann sollte die Greifswalder Straße 212/13 wieder mit Leben gefüllt werden. Es zogen Künstler*innern, Kreative und junge Firmen in die vollkommen sanierungsbedürftigen und dadurch unglaublich günstigen Räumlichkeiten ein. Dazu eine Kunsthochschule, Maler, Bildhauer, Komponisten, ein Theater und jede Menge Selbstständige wie Dieter Eberding und seine Architektenkollegen. Es solle ein “Kulturstandort” entstehen, hieß es damals von der TLG. Sanieren wollten die Eigentümer jedoch nicht – obwohl das laut Eberding, der den bröckelnden Putz und die desolaten Wasserleitungen und Sanitäranlagen noch gut vor Augen hat, dringend nötig gewesen wäre. Auch von den Mieter*innen selbst wollte sich die TLG nicht helfen lassen.

“Es entstanden damals viele Konzepte vonseiten der Mieter*innen, wie wir die Räume eigenverantwortlich hätten modernisieren und verwalten können. Wir haben uns Instandsetzungsszenarien ausgedacht und der TLG Pläne vorgelegt – doch die Führungsetage winkte ab”, so Eberding. Wieder andere Mieter wurden ganz einfach tätig, zum Beispiel die Betreiber des “Magnet”, der sich als Nachfolger des Clubs “Miles” auf zwei Etagen im Vorderhaus eingemietet hatte und in dem immer wieder bekannte Bands wie “The Libertines” oder “Take That” auftraten. Auf eigene Kosten bauten die Club-Inhaber die Schalldämmung aus – um wenige Jahre später, wie alle anderen Mieter*innen, gekündigt zu werden. Die TLG teilte überraschend mit, das Gelände an eine britische Investmentfirma verkaufen zu wollen.

Ein Aufschrei ging durch die Berliner Presse, es hallten gut bekannte Kampfbegriffe wie “Verdrängung” und “Gentrifizierung” durch die Zeitungen. Für Empörung sorgten die Verkaufspläne vor allem, weil sich knapp 150 Künstler*innen vorher zu einer Mieterinitiative zusammengeschlossen und kurzerhand sogar selbst einen Investor aufgetrieben hatten, der bereit war, den Komplex für satte 3 Millionen Euro zu erwerben und eine Art Atelierhaus aus dem Industriegebäude zu machen. Verhandelt wurde zwar, letztlich entschied sich die TLG aber doch für den Londoner Investor und die “Fabrik” wurde für 3,5 Millionen Euro verkauft.

 

Stadt und Bezirk blieben untätig

Schon ein Jahr später waren die 12.000 Quadratmeter weitgehend geräumt, einzig der Magnet Club und das Theater Eigenreich erhielten Duldungsverträge und durften noch bis 2010 in dem Komplex bleiben. Für Dieter Eberding war 2007 Schluss, nach sechs Jahren in seinem bescheidenen Büro, seinem “Kabuff”. “Einige Mieter*innen wollten sich partout nicht vertreiben lassen und haben gesagt, sie räumen nicht. Anderen war das zu heiß – mir persönlich ehrlich gesagt auch. Ich gehörte nicht zu denen, die bis zum bitteren Ende ausharren wollten”.

Dass weder der Senat noch der Bezirk damals in den Ausverkauf eingegriffen haben, hat Eberding sehr geärgert. Schaut er mit den Augen eines Architekten auf den Wandel der Greifswalder Straße 212/213 stört ihn allerdings etwas anderes: Nichts auf dem Gelände wurde unter Denkmalschutz gestellt, weder die alten Tabakspeicher, noch die Zigarettensäle, in denen Familie Rochmann vor 100 Jahren produziert hatte. So ist kaum überraschend, dass bis auf den Mittelteil, das Fabrikgebäude des Architekten Moritz Ernst Lesser von 1914, nichts mehr zu sehen ist von der vielfältigen Geschichte, die sich hinter den Klinkermauern der heutigen “Fabrik” abgespielt hat.

“Ich finde es schon sehr fragwürdig, dass der Bezirk damals nicht einmal versucht hat, den Denkmalschutz durchzusetzen”. Eberding meint damit vor allem, dass von dem Freudschen Tabakspeicher im zweiten Hof nichts erhalten wurde. So gibt es bis heute einzig die Vorschrift, dass nicht gewohnt werden darf in dem durchsanierten Gewerbehof, der inzwischen von liquiden Firmen und einem BioCompany belegt sind. Dieter Eberding, der inzwischen als fest angestellter Architekt in Kreuzberg arbeitet, war lange nicht mehr dort – obwohl er direkt um die Ecke im Prenzlauer Berg wohnt. Überhaupt hat er die Fabrik inzwischen “aus den Augen verloren”, sagt er. Die fast 100-jährige Geschichte aber wird er so bald nicht vergessen.” Als Beispiel für das vielfältige private Engagement jüdischer Berliner Familien fasziniert mich bis heute, wie diese die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung unserer Stadt mitgeprägt haben.”

 

Titelfoto: Die „Fabrik“ Ende der 1960er Jahre. Foto: Peer Grimm / Quelle: Bundesarchiv

 

Was sich vor dem ersten Weltkrieg in der „Fabrik“ abgespielt hat, lest ihr in Teil 1.

 

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