Hartmut Liste wohnte fast sieben Jahrzehnte in Prenzlauer Berg, seit seiner Geburt. Vor ein paar Jahren zog er nach Hellersdorf. Wie ist es dazu gekommen?
Doktor Hartmut Liste steht nach ein paar Minuten Gespräch plötzlich von der Couch auf, fasst sich an die Schulter und sagt: „Nich wundern!“ Er ist seit ein paar Tagen so stark verspannt, dass er morgen zum Arzt gehen und sich gegen diese Beschwerden spritzen lassen wird. Mal wieder. Schulterprobleme ereilen ihn in unregelmäßigen Abständen und so ist es für ihn angenehmer, wenn er steht. Er bietet mir aber eine andere Sitzmöglichkeit an, falls mir auf dem Hocker das Kreuz schmerzen sollte, während er das gesamte Gespräch über stehen bleibt.
Stehend hat Hartmut Liste auch einen guten Blick nach draußen. Von seinen Wohnzimmerfenstern aus kann er dann die fünfstöckigen Neubaublöcke sehen, die rings um die Flachbauten der beiden Supermärkte platziert sind. Es ist ein grauer Nachmittag Anfang Dezember, es herrscht mäßiges Treiben in Hellersdorf. In diesen Stadtteil ist der 73-Jährige nach fast sieben Jahrzehnten Prenzlauer Berg im April 2016 gezogen. Nicht weit entfernt – glücklicherweise nördlich der U-Bahn-Schienen, findet Hartmut Liste – ist das Stadtteilzentrum Helle Mitte, wo sozusagen der geballte Trubel stattfindet. Auf der südlichen Seite, wo ein Park nach der SPD-Politikerin Regine Hildebrandt benannt wurde, lebt der Rentner in einer Drei-Raum-Wohnung im vierten Stock.
Geboren wurde Hartmut Liste 1947 als Sohn eines Berliner Autoschlossers und einer berufslosen Mutter vom Lande in einer Wohnung in der Winsstraße in Prenzlauer Berg. Da sind seine Schwester (*1937) und sein Bruder (*1939) schon auf der Welt. Anfangs wohnt die Familie also zu fünft in einer Eineinhalbzimmerwohnung ohne Bad im Hinterhaus. Irgendwann ziehen die Geschwister aus und die Eltern mit dem jüngsten Sohn um. 1962 wechseln sie zu dritt in eine Wohnung der Schivelbeiner Straße. Hartmut Liste macht Abitur und beginnt sein Studium, bleibt aber vorerst in der Wohnung der Eltern, bis er 25-jährig 1973 eine kleine Wohnung in der Pasteurstraße bezieht. Sechs Jahre später wird er vorerst das letzte Mal umziehen. Es ist das Jahr 1979 und wieder geht es in die Schivelbeiner Straße – für diesmal über 36 Jahre. Prenzlauer Berg satt.
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Ausgerechnet Hellersdorf
Und es scheint auch so, als ob der 73-Jährige es am Ende ein bisschen satt hatte, in Prenzlauer Berg zu wohnen. „Ich hatte keinen Grund wegzuziehen, ich musste nicht raus“, sagt Hartmut Liste, „ich würde da wahrscheinlich noch wohnen.“ Aber er ist älter geworden und das Treppensteigen in den vierten Stock wurde zunehmend mühseliger. Er musste also was ändern – und suchte in den Ostbezirken, denn in den Westteil von Berlin wollte er nicht. Entscheidend war für ihn Folgendes: wieder ein oberes Stockwerk, diesmal nur mit Fahrstuhl, eine gute Verkehrsanbindung und das Wohnzimmer auf der sonnigen Seite. Am Ende wurde es diese Drei-Raum-Wohnung in Hellersdorf.
Aber, Herr Liste, warum zieht man ausgerechnet nach Hellersdorf, wenn man Jahrzehnte in Prenzlauer Berg gewohnt hat? Der Unterschied ist nicht von der Hand zu weisen, aber der 73-Jährige seufzt nur ein wenig und sagt: „Ja, das fragen ganz viele. Oder haben viele gefragt.“ Selbst die Wohnungsverwaltung in Hellersdorf hat erstaunt feststellen müssen, dass sie so einen Fall auch noch nicht hatten, woraufhin er nur erwiderte: „Na sehnse ma, man macht alles das erste Mal.“ Nur 16 Kilometer mit dem Auto trennen seine jetzige Wohnung von der Wohnung davor, es ist dieselbe Stadt, aber es liegen Welten dazwischen. Hier wie da: Alle wundern sich und fragen warum und wieso.
Hartmut Liste selbst hat dieser Umstand nie gestört, er hat sich sofort wohlgefühlt. Manchmal muss er ja noch in den Prenzlauer Berg fahren, vor allem für Arztbesuche. Anfangs dachte er, er würde nostalgisch werden, wenn er mit der U- oder S-Bahn in die Schönhauser Allee einfährt. Aber das war und ist bis heute nicht so – sicherlich weil er in Hellersdorf zufrieden ist, wie er meint. Hartmut Liste sagt: „Nee, also eigentlich trauere ich dem nicht nach.“ Und prompt ist in seiner sonst unaufgeregten Stimme Genervtheit zu vernehmen, wenn er an die vielen Leuten in der Schönhauser Allee denkt. Das gefällt ihm nicht. „Mich stört, wie sich manche Leute geben. Und das laute Erzählen, als wären sie so wichtig.“ Er mag auch die Bierflaschenkultur nicht, jeder geht mit einer Flasche in der Hand durch die Straße. Deshalb wäre er zwar nicht weggezogen, aber dieser Umstand trägt dazu bei, dass er nicht wehmütig wird.
Die Gegenwart, die ihm missfällt
Dann lieber dieser ruhige Ort in Hellersdorf, den er sich mit Bedacht ausgewählt hat. Bei der Suche ist er manchmal in die Gegend gefahren, um sich einen genauen Eindruck zu verschaffen. Hier war Hartmut Liste dreimal tagsüber und einmal abends, bevor er sich für diese Wohnung entschied. Er wollte sehen, vor allem abends, „ob irgendwelche Vollidioten überall rumlaufen“. Das war nicht der Fall. Auf der südlichen Seite der U-Bahn-Linie 5 sind glücklicherweise auch keine Kneipen und Bistros wie auf der nördlichen Seite der Hellen Mitte.
Hartmut Liste hat Sprachen (Russisch, Französisch, Tschechisch) an der Humboldt-Universität studiert, danach drei Jahre promoviert über die Entwicklung der Zahlwörter, im Besonderen über die slawischen Zahlwörter. Anfangs studierte er noch auf Lehramt, aber diese Überlegung hat er schnell verworfen, er wollte nicht vom DDR-Staat nach Greifswald oder Annaberg-Buchholz geschickt werden. So blieb er bei den Philologien und wurde Sprachlehrer für Studierende an der Humboldt-Universität an der Sektion Fremdsprachen. Nach dem Ende der DDR arbeitete er in dem neu gegründeten Sprachenzentrum der HU. Auch jetzt gibt er noch einen Französischkurs für Mitarbeiter der Universität. Zudem geht er zweimal die Woche zum Sport. Und ansonsten? „Mir wird nicht langweilig“, merkt er an.
Auch bei einem anderen Thema kann der Sprachwissenschaftler Hartmut Liste sein Missfallen nicht verbergen: Er findet das Gendern künstlich. Einerseits wird die Emanzipation der Frau so nicht vorangetrieben, andererseits spricht so der normale Mensch nicht, konstatiert er. Überhaupt kann Hartmut Liste den Entwicklungen der vergangenen Jahre nicht allzu viel abgewinnen. Er bezeichnet sich als Kritiker der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel, die 2015 Hunderttausenden Flüchtlingen Zuflucht in Deutschland gewährt hat. Warum genau, führt er nicht aus.
Der 73-Jährige findet zudem, die Medien berichten zu einseitig – jahrzehntelang hatte er die Berliner Zeitung abonniert. Die ist ihm zu banal und substanzlos geworden. Aktuell liest er die Junge Freiheit vier Wochen zur Probe. Seiner Meinung nach werden dort Dinge angesprochen, die in anderen Zeitungen nicht zu finden sind. Hartmut Liste hat nicht nur den Wohnort gewechselt, sondern auch seine Meinung über die Welt, scheint es. Doch hier in Hellersdorf hat er, was er wollte: eine Wohnung in einem oberen Stock, die er mit dem Fahrstuhl erreichen kann, eine gute Verkehrsanbindung und sein Wohnzimmer zur gewünschten Himmelsrichtung.
Titelbild: Peter Schulz