Hanne

Nicht auf das Ende warten

von Peter Schulz 2. Dezember 2020

Die Kindheit beginnt mit Flucht, den ersten Ehemann liebt sie nicht, der zweite stirbt zu früh. Das ist das Leben. Aber Hanne hat noch nicht genug davon.


Sehen schützt vor Blindheit nicht. Also sollte niemand sich täuschen – schon gar nicht bei Hanne. Hanne, 78 Jahre alt, trägt eine graue Hose, einen grauen Pullover und kurze graue Haare. Nur ihr helles Halstuch ziert viele blaue Schmetterlinge. Hanne bietet schon im Flur an: Kaffee, Tee, einen Wein? Es ist nachmittags halb fünf und Hanne betritt auf einmal die Küche mit einer Flasche Prosecco. Sie holt noch schnell zwei Gläser, bittet zuvor, die Flasche zu öffnen. Es knallt kurz, es wird eingegossen, es wird Platz genommen – natürlich mit Abstand. Hanne aber hat keine Angst vor Corona, sie passt zwar auf, aber „wenn ich es kriege, kann ich auch nichts ändern.“

So hat Hanne es immer praktiziert mit dem Leben, zumindest versucht, sagt sie. Und beginnt zu rezitieren. Nur kommt sie nicht weit. Doch es reichen ein paar Worte und es ist auszumachen, um welches Zitat es sich handelt. Der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr verfasste einst ein Gebet, das da lautet: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Hanne ist nicht gläubig, aber das ist der Spruch, der sie durch das Leben begleitet.

Von diesem Leben hat Hanne noch nicht genug. Sie ist viel unterwegs, fast täglich. Letztens war sie in Tegel – eine Freundin bat sie, mit ihr einen Staubsauger auszusuchen. Oder Hanne trifft andere Frauen und Freundinnen zur regelmäßigen Tageswanderung, neulich in Spandau. Zweimal in der Woche geht sie zum Sport, normalerweise. Außerdem hat sie schon alle Opernhäuser und Theater Berlins von innen gesehen. Und zum Glück war Hanne noch im Oktober mit zwei Freundinnen für einen Kurzurlaub an der Ostsee. „Ich sitze doch nicht hier und warte, bis der Tod kommt“, posaunt sie auf einmal heraus.

 

Zwei Männer und die Liebe

Hannes Leben dagegen beginnt, als der Zweite Weltkrieg bereits wütet. Sie kommt 1942 in den Masuren im ehemaligen Ostpreußen zur Welt. Aber gerade ist keine Zeit für familiäres Glück und eine schöne Kindheit. Die Mutter begibt sich mit der neugeborenen Hanne und ihren zwei älteren Schwestern auf die Flucht Richtung Westen. Zu dem Zeitpunkt war der Vater verschollen, also tot, und schon ein Kind gestorben. Nachdenklich sieht Hanne aus dem Fenster und sagt: „Ich kann es nicht ändern. Prost, mein Lieber!“ Nach zwei Jahren Flucht erreichen Mutter und Töchter Staßfurt in Sachsen-Anhalt. Dort verbringt Hanne ihre Kindheit und Jugend.

Manches kann man nicht ändern, manches muss man ändern – lieber spät als nie. Ihren ersten Mann heiratet Hanne mit Anfang 20, nach einem Jahr hätte sie sich am liebsten getrennt. Aber erst nach 20 Jahren Ehe und zwei Söhnen lässt Hanne sich scheiden. „Die Jahre waren nicht nur schlecht“, gibt Hanne zu Protokoll, „aber es war auch keine Liebe.“

Liebe aber, so ist der Eindruck, war es mit ihrem zweiten Mann, der ausgerechnet zwischen Weihnachten und Neujahr 1999 starb. Auf einmal lebte sie allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Friedrichshain und hatte zudem ein Haus zwischen Neuruppin und Rheinsberg von ihrem Mann geerbt. Dort verbrachte sie bis vor vier Jahren meistens die Sommermonate. Als sie still ans Verkaufen denkt, kommt der Zufall. Eines Tages, Hanne arbeitet gerade im Garten, wird sie gefragt, ob jemand gerade ein Haus verkaufen will. Und Hanne sagt prompt: „Meins könnense haben, nicht gleich, aber im nächsten Jahr.“ So ist das bei Hanne, das Haus war verkauft. Aus der Drei-Zimmer-Wohnung in Friedrichshain war sie da schon längst ausgezogen.

 

Das Alter als Anstrengung und Privileg

Seit zwölf Jahren wohnt Hanne nun in Prenzlauer Berg. Und auch hier hatte sie Glück. Eigentümer ihrer Wohnung mit Balkon ist einer ihrer Söhne. Seitdem bezahlt Hanne Miete an das eigene Kind, das nicht nur anrückt, wenn mal was repariert werden muss. Zu ihren beiden Söhnen hat sie ein gutes Verhältnis, aber nie würde sie zu ihnen ziehen wollen. Da ist Hanne strikt: Jeder hat sein Leben und außerdem muss sie doch noch nicht betreut werden!

Hanne nimmt die Dinge eh gerne selbst in die Hand. Im Februar hat sie ihr Auto abgegeben und ist auf das Fahrrad umgestiegen. Und prompt fährt ihr ein Autofahrer in die Seite – den zweiten Unfall mit dem Fahrrad innerhalb eines halben Jahres. Das ist für Hanne natürlich kein Grund, nicht mehr Fahrrad zu fahren. Verzagen gibt es bei Hanne nicht. Klar zwickt es jeden Tag woanders – „wer was anderes behauptet, lügt“ –, aber Hanne sieht das Alter auch als ein Privileg. Sie hat keine großen Verpflichtungen mehr und was sie sich in der einen Sekunde vornimmt, kann sie in der nächsten wieder verwerfen. Das ist doch toll, freut Hanne sich.

Sie hatte in ihrem Leben zwar auch einige Operationen, nimmt eine Schilddrüsentablette und eine gegen zu hohen Blutdruck. Außerdem hat sie die Lungenkrankheit COPD, wahrscheinlich durch das Rauchen. Seit sie vor ein paar Jahren aufgehört hat, geht es ihr gut. Ohnehin, denkt Hanne oft – im Gegensatz zu anderen in ihrem Alter. Auf einmal lacht sie auf, steht auf und sagt: „Also, diese Corona-App amüsiert mich köstlich, darüber muss ich wirklich lachen.“ Hanne holt ihr Smartphone, öffnet die App, zeigt das grüne Display und fragt dann: „Und was ist nun? Was weiß ich jetzt? Na nix!“ Sie weiß nur, dass sie vorerkrankt ist und keine lebensverlängernden Maßnahmen möchte.

 

Eine Ostdeutsche in Köln und ein kurioses Erlebnis

Aber Hanne, sag mal: Was hast du eigentlich beruflich gemacht? „Ach“, sagt sie „das ist doch gar nicht wichtig.“ Und beginnt trotzdem zu erzählen: von einer Ausbildung zur Kindergärtnerin, von einem Studium an der Humboldt-Uni, das sie als Diplom-Pädagogin abschloss, von ihrem Berufsleben in der Lehrer-Weiterbildung, von Jugendlichen, die sie fortbildete und beim Einstieg in den Job half.

Eines muss sie dann doch noch erzählen – ein kurioses Erlebnis, das sie bis heute nicht vergessen hat. Es ist kurz nach dem Fall der Mauer. Noch vor Hannes siebenmonatiger Arbeitslosigkeit, weil ihr Institut aufgelöst wird, delegiert man sie und andere für 6 Wochen zur Weiterbildung nach Köln. Man stelle sich also eine Gruppe diplomierter und promovierter Ostdeutscher in Köln vor, die von ihrer dortigen Betreuerin gefragt wird, was sie gern in der Freizeit erleben möchten, es gäbe ein kleines Kultur-Budget. Die Antwort lautete: „Pretty Woman“ im Kino. Die Betreuerin war überrascht, machte große Augen und fand es etwas niveaulos. Und Hanne sagt in ihrer Küche lachend und ein bisschen triumphierend: „Mit Tschaikowsky und anderen Komponisten, mit der Hochkultur kannten wir uns doch viel besser aus als die. Wir waren in der DDR doch bildungsnahe Bürger. Aber so einen Film wie Pretty Woman, so was war doch für uns total neu.“

Und wenn irgendwann einmal Hannes Leben verfilmt werden sollte, dann ist schnell ein Titel gefunden: Great Woman. Hier spricht eine Frau, bei der es keine halben Sachen gibt, kein Platz ist für lähmende Trauer und Resignation, die nicht heute so und morgen so sagt, sondern: „Du kannst dich hängen lassen, du kannst es aber auch lassen!“

 

Titelbild: Peter Schulz

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