Was vom Bohème-Kiez übrig blieb: Eine neue Doku erzählt von Geschichte und Wandel der Kastanienallee.
Spaziert man heute über die Kastanienallee, fällt es schwer sich vorzustellen, wie es hier zu DDR-Zeiten ausgesehen hat. Die schmuck sanierten Altbauten mit begrünten Balkonen, die zahlreichen Restaurants und Cafés oder die kleinen Läden, die „Tüdelkram“ verkaufen, sind meilenweit entfernt von bröckelnden Fassaden, Kohlengeruch und Klo auf halber Treppe.
Es gibt nur wenige Straßen in Berlin, die sich in den drei Jahrzehnten seit dem Fall der Mauer mehrfach wie eine Schlange gehäutet haben: Wo sich früher fast in jedem Hinterhof ein Handwerksbetrieb befand, übernahmen später Künstler*innen und Kreative das Ruder, es entstanden Theaterprojekte und Galerien im Souterrain. Einst war die knapp einen Kilometer lange Straße außerdem die mit den meisten besetzten Häusern des Bezirks.
Es folgten Werbeagenturen und Schauspieler*innen, die der Gegend den Spitznamen „Castingallee“ einbrachten – Sehen und gesehen werden lautete das Motto bis Anfang der Nuller Jahre. Mittlerweile ist vom kreativen Flair dieser Zeit nicht mehr viel übrig, etliche Projekte und Mieter*innen mussten aufgrund von Modernisierung und Mietpreiserhöhung weichen.
Ehemalige Hausbesetzermeile
Was ist geblieben von der alten Kastanienallee und welchen Charakter hat sie heute? Tim Evers, Regisseur und TV-Journalist, hat für seine Doku „Berlin Kastanienallee. Von Menschen und Häusern“ mit Personen gesprochen, die die Straße seit Jahrzehnten kennen. Zum Beispiel mit Familie Hauptmann, die 1992 das „Hotel Kastanienhof“ in zwei ehemaligen Miethäusern eröffnete; die beiden Gebäude, 1865 erbaut, befinden sich seit den 1930er Jahren in Familienbesitz. Es sei damals sehr schwierig gewesen, einen Kredit zu bekommen, erzählt der Eigentümer: Dass es funktionieren könnte, in dieser schäbigen Gegend, der „Rattenallee“, ein Hotel zu eröffnen, hielten die Banken nicht für möglich.
Die Hausgemeinschaft der Kastanienallee 77 hat damals nicht um einen Kredit gebeten: Sie besetzten das leerstehenden Vorderhaus und die Hinterhäuser, die von begrünten Höfen durchbrochen sind. Weil die Gemeinschaft bereits kurz nach der Besetzung einen Erbpachtvertrag über fünfzig Jahre erhielten, ist in der Straße noch heute ein bisschen von dem alternativen Flair der frühen 1990er Jahre spürbar. Dazu trägt auch das Lichtblick Kino bei, das seit 1998 die Räume im Vorderhaus gemietet hat. Das „Tuntenhaus“ in der Kastanienallee 86 sowie das Café Morgenrot und der Buchladen zur schwankenden Weltkugel erinnern ebenfalls noch an die Nachwendezeit, in der es rund fünfzig besetzte Häuser allein in Prenzlauer Berg gab.
Liebeserklärung an das Herz von Prenzlauer Berg
Zu Wort kommt neben dem Besitzer des Kult-Cafés Schwarz Sauer, das 1993 als eines der ersten Cafés auf der heutigen Flaniermeile eröffnete, sowie Anwohnern des Hirschhofs auch die Besitzerin des Friseursalons „Vokuhila“: „Früher nannte man die Straße „Castingallee“, heute ist es eher die „Ente kross“-Allee“, sagt Claire Lachky mit Bezug auf die vielen asiatischen Restaurants, die das Straßenbild mittlerweile prägen.
Mit seiner Dokumentation zeigt der gebürtige Potsdamer Tim Evers, wie wichtig es ist, dass es auch in einer Großstadt wie Berlin Freiräume für die Bewohner*innen gibt, welche Rolle Nachbarschaft und Gemeinschaft spielen und wie sich die Kastanienallee immer wieder neu erfindet – und doch charmant bleibt. Es ist eine sehenswerte Liebeserklärung an das Herz von Prenzlauer Berg geworden.
Die Dokumentation „Berlin Kastanienallee. Von Menschen und Häusern“ läuft am Dienstag, 24. November 2020 um 20.30 Uhr im rbb Fernsehen und ist im Anschluss in der Mediathek zu sehen.
Titelbild: Die Kastanienallee von oben / © rbb
2 Kommentare
Das Schwarz-Weiß-Bild zeigt nicht die Kastanienallee, sondern den Blick in die Oderbergerstraße, wenn mich nicht alles täuscht.
Das ist der Blick von der Kastanienallee aus in die Oderberger Straße, richtig.