Nachbarschaft - Alte Dame

„Immer nur Prenzlauer Berg“

von Peter Schulz 8. Oktober 2020

Die Nachbarin des Autors wohnt ihr ganzes Leben in Prenzlauer Berg, seit 52 Jahren in derselben Wohnung. Die Geschichte eines langen Lebens und einer besonderen Nachbarschaft.


Christa Lemke* braucht Zeit, viel Zeit. Dabei verlässt sie ihre Wohnung nur noch donnerstags. Viel Zeit braucht Frau Lemke trotz ihrer schmalen Statur zur Fortbewegung. Der Gang durch ihre Wohnung gleicht nämlich einem Drahtseilakt. Mit ausgestreckten Armen geht sie langsam von Zimmer zu Zimmer, greift nach einer Türzarge, findet Sicherheit an einer Wand, hält sich an der Ecke eines Möbelstücks fest. 

So bewegt Frau Lemke sich auch an diesem Sonntagnachmittag zur Tür. Zuvor ruft sie stets ein zaghaftes und etwas erschöpftes „Ich komme!“ aus dem Inneren der Wohnung. Wenn es zweimal kurz hintereinander klingelt, so haben wir vor ein paar Jahren beschlossen, stehe ich vor der Tür: der junge Mann. So bezeichnet sie mich, wenn sie mit anderen redet. Sie öffnet mir die Tür und bittet, wie so oft, mit einem leisen, fast konspirativen „Kommense!“ hinein. Der junge Mann, der eintritt, ist 36 Jahre alt und wohnt seit elf Jahren im 2. Obergeschoss links. Frau Lemke ist 95 Jahre alt, wohnt im 1. Obergeschoss in der Mitte – seit unglaublichen 52 Jahren, seit 1968. Den Prenzlauer Berg hat sie auch davor nicht verlassen.

 

Aus Schrebergärten wurden Wohnhäuser und ein Supermarkt

Anfangs war Frau Lemke einfach nur eine kleine, weißhaarige Nachbarin von 84 Jahren. Sie führte ein selbstständiges Leben, alles erledigte sie allein. Wir trafen uns auf dem Flur oder im Supermarkt, wechselten ein paar Sätze und sie beklagte, dass sie die Nachbarn nicht mehr kenne und bemängelte die starke Fluktuation. Danach gingen wir unserer Wege. Als die Kräfte zu schwinden begannen, kam einmal in der Woche ihr Sohn. Bis heute erledigen beide jeden Donnerstag den Einkauf, manchmal müssen sie zusätzlich zum Arzt oder zur Frisörin. Ansonsten bleibt Frau Lemke zu Hause in ihrer Wohnung. Allein schafft sie nur noch ihren Haushalt, nach draußen traut sie sich schon lange nicht mehr ohne fremde Hilfe.

Beim Einzug 1968 in das Wohnhaus waren gegenüber noch Schrebergärten, wo jetzt ein Supermarkt und Wohnhäuser stehen. Ihr Mann, elf Jahre älter, und sie waren froh über die 2,5-Zimmer-Wohnung. Sie wollten die Wohnung renovieren, aber der Mann wurde oft krank. Er arbeitete als Automechaniker, half nach der Arbeit seinem Bruder im Kohlenhandel, bis er dort ganz anfing. Frau Lemke ist sich sicher, dass ihr Mann durch diese Arbeit so früh starb. Die Renovierung jedenfalls wurde immer wieder verschoben. Er beruhigte seine Frau stets, bis er 1974 mit 60 Jahren starb. Die Wohnung wurde nicht mehr von ihrem Mann tapeziert. Noch heute hat sie Tränen in den Augen, wenn sie von ihm redet, und sagt: „Mein Mann war meine erste große Liebe und meine letzte große Liebe.“ Danach blieb sie allein. 

Geboren ist Frau Lemke auch schon in Prenzlauer Berg: 1925 in einer Wohnung in der Dunckerstraße 7. Ihre Schwester kommt dort drei Jahre zuvor auf die Welt. Als junges Mädchen wächst sie in der Metzerstraße auf, in der Schönhauser Allee geht sie zur Schule. Dann zieht sie in die Lychener Straße, anschließend mit Mann und Sohn für lange Jahre in die Mendelssohnstraße, bis das Ehepaar die jetzige Wohnung bekommt – wieder in Prenzlauer Berg. Ihre Schneiderlehre jedoch absolviert sie in der Hermannstraße, arbeitet in der Nähe der Jannowitzbrücke, später wechselt sie ihren Beruf und wird Verkäuferin. „Ansonsten immer nur Prenzlauer Berg“, sagt Frau Lemke wie selbstverständlich, als wäre nie ein anderer Bezirk, eine andere Stadt in Frage gekommen. So erzählt sie es mir in ihrer Küche, wo ich oft nahe der Tür auf einem Stuhl Platz nehme, während sie einige Meter entfernt sitzt. Manchmal liegt noch die „Berliner Zeitung“ aufgeschlagen auf dem Tisch, denn ohne Tageszeitung wird vor allem der Vormittag lang.

 

Meistens wird das Wochenende gut

Die „Berliner Zeitung“ und der Fernseher sind zwischen zwei Donnerstagen ihr Tor nach draußen. Die Tageszeitung hat dabei einen besonderen Wert, denn die muss zur ihr gelangen. Als die Kräfte weiterhin nachließen und sie es nicht mehr allein schaffte bis zum Briefkasten, gab sie mir ihren Briefkastenschlüssel. So hole ich seit zwei Jahren morgens die Zeitung heraus und lege ihr sie vor die Wohnungstür – schon bevor ihr Sohn mich offiziell bat. Wenn sie Müll in den Flur stellt, nehme ich ihn mit, so unsere Abmachung. Doch Frau Lemke fragt trotzdem jedes Mal mit einem bittenden Blick: „Kann ich morgen noch ne Tüte rausstellen?“ Zum Dank überreicht sie mir manchmal eine Flasche Bier, die sie zusammen mit ihrem Sohn im Supermarkt aussucht. Oft schenkt sie mir auch Schokolade, Obst oder das Dessert ihres Mittagessens, das ihr täglich gegen halb 10 geliefert wird.

Wenn ihr Sohn mal im Urlaub ist oder anderweitig verhindert, dann entscheiden drei Croissants über das Befinden am Wochenende. Meistens wird das Wochenende gut – ich lege ihr dann die drei Croissants gemeinsam mit der Zeitung vor die Tür. Ein Croissant ist für Sonnabend, die anderen beiden sind für Sonntag – eines für sie und eines normalerweise für ihre Schwester. So war es jeden Sonntag, wenn Frau Lemke ihre Schwester im Heim besucht hat. Dann haben sie zur Kaffeezeit Croissants gegessen. Ihre Schwester ist jedoch vor drei Jahren gestorben, mit 95. Dieses Ritual wird auch über ihren Tod hinaus beibehalten. Und immer noch ist sie traurig, wenn sie von ihr erzählt, und sagt mit gebrochener Stimme an diesem Sonntagnachmittag im September: „Können Sie verstehen, dass ich meine Schwester immer noch vermisse?“

Die Schwester ist immer noch präsent, sie erwähnt sie oft. Der Vater hatte immer gesagt, dass die Große auf die Kleine aufpassen soll. „Denn ich war keine Trine; wo Jungs waren, war ich auch. Und wenn mein Vater mit mir gemeckert hat, hat meine Schwester geheult.“ Am Ende, als beide alte Frauen sind, ist es umgekehrt, Frau Lemke passt auf ihre Schwester auf, die viele Jahre im Heim wohnte. 

Auf einmal ist sie kurz still, atmet tief durch. „Ach“, seufzt sie, „ich könnte so viel erzählen.“ Daran gibt es keinen Zweifel. Es wären Geschichten von ihrem Mann, Erlebnisse mit ihrer Schwester, auf ihren Sohn käme sie zu sprechen und manchmal auch auf aktuelle Ereignisse. Aber in einem Leben von 95 Jahren steckt eben viel Vergangenheit und wenig Zukunft. Jetzt aber bleibt keine Zeit mehr zum Erzählen, jetzt muss sie das Abendbrot vorbereiten. Beim Hinausgehen noch eine Frage und der typisch bittende Blick: „Kann ich morgen noch ne Tüte rausstellen?“ Ja, kann sie.

*Name von der Redaktion geändert

Text: Peter Schulz

Foto: Alex Balajan / Unsplash

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1 Kommentar

Simone Lambert 8. Oktober 2020 at 23:54

Genau solche Geschichten will ich in den Prenzlauer Berg Nachrichten lesen. Lokal, individuell und trotzdem den Nah- und Fern-Blick öffnend. Danke dafür!

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