Bestechend grüne Augen und eine große Klappe: Mit Henni Binneweis hat Tim Krohn eine echte Berliner Göre geschaffen. Dass sie die Hauptfigur in seinem neuen Roman wurde, ist allerdings Zufall.
Eigentlich wollte der Schweizer Autor die Geschichte der jüdischen Fotografin Yva erzählen, die in den 1920er Jahren in Berlin arbeitete und sich später weigerte, ins Exil zu gehen. Doch auch die Frau, die ihr Modell stand, sollte eine plastische Lebensgeschichte bekommen – und so enstand Henni, zusammengesetzt aus verschiedenen historisch belegbaren Frauen der damaligen Zeit, die ihren literarischen Geschwistern von Irmgard Keun, Erich Kästner oder Kurt Tucholsky in nichts nachsteht.
Mit ihren Eltern und ihrem kommunistischen Bruder Kuddl lebt Henni, geboren 1902, in einer Mietskaserne in Prenzlauer Berg, vierter Hinterhof, Klo auf halber Treppe und nicht immer genügend Kohlen zum Heizen – Zilles „Milljöh“ in Prosa. Um sich im Berliner Alltag nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen, lernt sie sich durchzusetzen und gewitzt zu sein; eine Eigenschaft, die Henni in der Zeit zwischen den Kriegen dann mehr als einmal in die Bredouille bringt. Sie erlebt den Ersten Weltkrieg und das politische Durcheinander der Nachkriegszeit, übt sich im Kreise der Dadaisten im expressionistischen Tanz und muss lernen, Haltung anzunehmen gegen den aufziehenden Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Hass auf die Juden.
Wie es war, eine längst vergangene Zeit zum Leben zu erwecken, was sie uns auch nach all den Jahrzehnten noch lehren kann und wie sich die feurige Henni wohl heutzutage in Prenzlauer Berg verhalten würde, darüber haben wir mit Tim Krohn gesprochen.
Der Roman beginnt im Jahr 1914 und endet Anfang der Zwanziger Jahre. Warum genau dieser Zeitraum?
TK: Mir ging es vor allem darum zu begreifen, wie sich die Zeit so entwickeln konnte: Wie kam es vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus? Ich las die These, dass diese Propagandamaschine während des Ersten Weltkriegs, durch die Kinder unter anderem Frontberichte abschreiben mussten, sie dazu angestiftet hat, das Ganze als ein Spiel zu begreifen: Wer hat die Schlacht gewonnen, wie viele Gefangene wurden genommen und so weiter. Diese Generation ist mit einem derartigen Kitzel aufgewachsen, dass sie nach Kriegsende ein Adrenalindefizit hatte und deshalb immer den nächsten Kick gesucht hat – zum Beispiel im aufkommenden Spitzensport oder in der Partyszene. Ich sehe darin eine sehr starke Parallele zu unserer Zeit und dem wollte ich nachgehen.
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Deine Hauptfigur Henni Binneweis ist recht naiv; Es scheint so, als „passiere“ ihr die Weltgeschichte einfach und sie schaut fasziniert zu.
TK: Die Zeit war naiv! Viele Leute sagen, Henni sei ein bisschen unterbelichtet, was vielleicht auch stimmt. Aber wenn ich mir zum Beispiel die Generation meiner Mutter anschaue, obwohl sie erst in den 1930er-Jahren geboren wurde, sehe ich dort auch eine unfassbare Naivität, und zwar bis heute. Man betrachte mal, was den Menschen während des Ersten Weltkriegs alles erzählt wurde, und sie haben es geglaubt; ähnlich war es dann während des Zweiten Weltkriegs. Und auch im Rahmen von Corona glauben die Leute an allerlei Verschwörungstheorien. Henni ist also nicht naiver als der Durchschnittsmensch, würde ich sagen. Sie zeigt außerdem eine lebenspraktische Klugheit – und, das war dramaturgisch wichtig, sie ist furchtlos. Dadurch gerät sie immer wieder in Situationen, in die andere Menschen aus Angst gar nicht erst kommen würden.
War es für dich einfacher, die Geschichte aus der Sicht einer jungen Frau zu schreiben, als aus der Perspektive eines Mannes?
TK: Ich frage mich, ob eine Geschichte dieser Art überhaupt aus der Sicht eines Mannes geschrieben werden könnte. Es gibt ja mit Hendrik eine Figur, die Henni ähnlich ist und auch die Hauptfigur hätte sein können. Frauen hatten während dieser Zeit aber eine ganz wunderbare Eigenständigkeit und eine eigene Weltsicht, die mir sehr gefällt. Nur wird die selten erzählt. Die Erlebnisse von jungen Männern beim Militär zum Beispiel reizen mich weniger. Und wie alle Männer in dem Roman bin natürlich auch ich verliebt in Henni!
Wie bist du bei der Recherche zu dem Buch vorgegangen? Über diese Zeit gibt es ja unfassbar viel Material.
TK: Ich gehe da sehr nach dem Lustprinzip und auch nach Zufall vor: Wähle ein Buch aus, lese rein, lege es wieder weg. Irgendwann bildet sich dann eine Geschichte heraus.
Hast du beim Schreiben etwas neues über die Zeit und die Figuren gelernt?
TK: Hennis Leben war viel praller, als ich es zunächst gedacht hatte. Eigentlich wollte ich nach wenigen Seiten schon in den Zwanziger Jahren angekommen sein, aber dann hatte ich plötzlich 200 Seiten geschrieben und war noch lange nicht da. Eine schöne Überraschung für mich war, dass Henni so konsequent ihren eigenen Weg geht, obwohl sie mal hier rein und mal dort hinein schaut. Aber es baut sich etwas auf, das am Ende ein sinnvolles Ganzes ergibt. Außerdem zeigt es wie wichtig es ist, in einem Moment laut zu sein und für sich einzustehen, wo sich andere wegducken. Ich habe sehr viel über Haltung gelernt: Henni bleibt immer bei sich und nimmt in Kauf, dass sie das einiges kostet. Sie kommt nie an einen Punkt, an dem sie überlegt, ob sie sich nicht lieber anpassen sollte – das ist gar keine Alternative für sie.
Du selbst lebst in der Schweiz. Wie schreibt man ein Buch über Berlin, wenn man selbst so weit entfernt wohnt?
TK: Ich war schon oft in Berlin und habe vor zwanzig Jahren auch länger hier gewohnt, kenne die Stadt also. Aber die Geschichte von Henni ist ja auch zeitlich weit weg angesiedelt; Berlin wurde im Zweiten Weltkrieg zum größten Teil zerstört und die Stadt, wie sie Henni kannte, existiert sowieso nicht mehr. Mir wurde schon vorgeworfen, dass ich kein Berliner bin und die Stadt gar nicht so detailliert beschrieben habe. Aber ich schildere sie ja aus der Perspektive von Henni, und wenn die nicht auf bestimmte Details achtet, die Berliner und Berlinerinnen gerne im Buch hätten, dann sind sie für Henni einfach nicht wichtig. Nur so wird das Buch glaubwürdig. Natürlich hatte ich aber meine Gewährsleute vor Ort; Ich habe es ein paar waschechten Berlinern gegeben, auch wegen der Sprache. Die Passagen im Berliner Dialekt habe ich zwar geschrieben, sie wurden mir aber noch etwas drastischer gemacht, was ich fast schade fand. Aber mir wurde gesagt, dass man früher so geredet hat – auch wenn es für mich damit kurz auf der Kippe stand, weil es heute womöglich nur noch folkloristisch wirkt.
Henni wiederum wohnt mitten im Prenzlauer Berg. Warum genau dort? Vom Milieu her hätte es ja auch eine Mietskaserne im Wedding sein können.
TK: Da habe ich tatsächlich eine Weile hin und her überlegt. Aber ich kannte Prenzlauer Berg einfach besser und hatte ein besseres Gefühl für diese Gegend. Außerdem halte ich Prenzlauer Berg für einen wundervollen Ort, er ist das Herz Berlins. Darüber hinaus war die Nähe zum Scheunenviertel wichtig, wo Henni viel Zeit verbringt und wo sich einige der Orte befinden, die im Roman eine Rolle spielen.
Wenn Henni heutzutage im Prenzlauer Berg wohnen würde, wie würde sie sich dann verhalten?
TK: Ich kenne den Prenzlauer Berg jetzt nicht mehr so gut, in den letzten zehn Jahren war ich immer nur als Tourist hier. Aber ich bin überzeugt, dass Henni sich hier durchsetzen würde, denn es ist ja die junge Generation, die mittlerweile das Leben sehr stark prägt. Hier ist noch immer vieles möglich, was in anderen deutschen Städten nicht möglich ist. Das geht natürlich auch nur, weil hier viele Menschen für wenig Lohn arbeiten; davon lebt Berlin. Henni wäre vielleicht eine von den Tausenden, die hier ihre Theaterprojekte auf halbprofessionellem Niveau realisieren.
Ich hätte ihr gewünscht, dass sie danns als Schauspielerin an die Volksbühne kommt. Mir sagte aber kürzlich ein Freund, dass man aus Berlin weggehen muss, wenn man etwas erreichen will; weil es niemand versteht, wenn man jeden Morgen um acht Uhr am Schreibtisch sitzt – denn im Café sitzen und lesen ist ja viel gemütlicher. Vielleicht würde Henni in ihrer konsequenten Art also auch einfach die Stadt verlassen, um erfolgreich zu sein. Wahrscheinlich würde sie nach Paris ziehen und dort auf die Kunsthochschule gehen.
Tim Krohn: „Die heilige Henni der Hinterhöfe„. Kampa Verlag, 2020. Gebunden, 256 Seiten, 22 Euro.