Christiane Lötsch verbrachte ihre Kindheit in der DDR, in der Bundesrepublik Deutschland wurde sie erwachsen. Das hatte Folgen für ihr Leben heute. Vor allem für ihr Engagement.
„Jedes Mal, wenn ich dahinkomme, rutscht das Herz eine Etage tiefer. Alles in Berlin ändert sich ständig, vor allem im Prenzlauer Berg, wo ganze Bevölkerungsschichten ausgetauscht wurden – nur hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein“, sagt Christiane Lötsch. Der Ort von dem sie redet, ist ein Überbleibsel aus der DDR und gehört zu einem Plattenbaugebiet zwischen Greifswalder Straße, Michelangelostraße, Kniprodestraße und Storkower Straße.
Große Wohntürme und elfgeschossige Bauten wechseln sich hier ab. Alle stehen in langen Reihen nebeneinander. Sie sehen aus wie Legosteine. Die meisten von ihnen sind in einem gräulichen Weiß. Irgendwann einmal waren sie wirklich weiß. Doch die Jahre haben sie verwittern lassen. Immer wieder bilden jeweils drei lange Reihen ein Hufeisen und damit einen Innenhof. Darin sind Spielplätze, Rasenflächen, Büsche und Bäume. „Lange war das mein Universum“, sagt die 39-Jährige. Mit ihren Eltern und Geschwistern lebte sie in einem dieser Plattenbauten. Ihr gesamtes Leben als Kind spielte sich in dem Rechteck zwischen den vier Straßen ab. Sie ist dort zum Kindergarten und zur Grundschule gegangen. Am Nachmittag spielte sie in den Höfen.
Die junge Christiane nimmt an den Treffen der Jungpioniere teil, wird Gruppenratsvorsitzende. Ihre Eltern erziehen sie im Sinne des Sozialismus. Nicht alles, was sie als Kind damals hört, versteht sie. Als sie neun Jahre alt ist und Berichte über Menschen im Fernsehen sieht, die in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen wollen, reden die Eltern nicht darüber. Dann öffnen die Grenzübergänge und die Deutsche Einheit kommt. Und Christiane Lötsch wird auf einmal in einem ganz anderen politischen System groß. Sie selbst ist mitten in der schwierigen Zeit häufig auf sich allein gestellt. Ihre Eltern, Lehrer oder Geschwister sind mit den täglich aufkommenden Veränderungen beschäftigt.
Jahre später wird Lötsch klar, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine ist. Sie gehört zu einer Generation, die rund 2,4 Millionen Menschen umfasst, die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren wurden. Soziologen sprechen von der „Generation Wende“ oder auch von der „Dritten Generation Ost“. Allen ist gemein, dass sie einen großen Teil ihrer Kindheit in der DDR verbrachten, aber in der Bundesrepublik Deutschland erwachsen wurden.
Und die Erwachsenen drehen durch
Als Lötsch 1980 geboren wird, scheint in der DDR alles noch zu funktionieren. Neun Jahre wächst sie im klassischen DDR-System im Prenzlauer Berg auf. Das Leben sei sehr durchorganisiert gewesen und jeder habe seine Funktion gehabt, sagt Lötsch. Dann kommen der Mauerfall und die Wiedervereinigung. „Alles ist wie immer. Dann wacht man auf, die Erwachsenen drehen total durch. Man merkt, irgendwas ist passiert. Das war vollkommen abstrus“, beschreibt sie ihre Erlebnisse von damals. Als Kind bemerkt sie eine Unruhe und Unsicherheit: Passiert das jetzt tatsächlich? Wirklich greifen kann sie die Situation nicht. Denn ihr eigener Alltag geht zunächst normal weiter. Sie geht zur Schule, macht ihre Hausaufgaben und trifft sich mit den Klassenkameraden.
1991 kommt sie auf das Französische Gymnasium in Westberlin. Ihr Leben ändert sich schlagartig. Raus aus dem Prenzlauer Berg, rein in den Rest der Welt. Schließlich studiert sie Romanistik, Film- und Theaterwissenschaft sowie Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Université de la Haute Bretagne, Rennes 2. Heute arbeitet sie in der Akademie der Künste an dem Projekt „Europäische Allianz der Akademien“. Ehrenamtlich engagiert sie sich in europäischen Projekten und seit November 2019 bei Zeitenwende, einem Lernportal, das sich mit der späten DDR auseinandersetzt und die Biografien der Wendekinder in den Mittelpunkt rückt.
Eine Vermittlerin zwischen den Systemen
Über ihr ehrenamtliches Engagement sagt sie, dass sie heute mehr zu tun habe als vor zehn Jahren. Vor allem seit der Geburt ihrer Tochter fragt sie sich, was die Folgen des Systembruchs mit ihrer Identität zu tun haben und wo sich ihre Erfahrungen und Überzeugungen im politischen und öffentlichen Diskurs wiederfinden: Welche Erfahrungen von damals haben mich geprägt? Was gebe ich an mein Kind weiter? Und was muss sich ändern? „Ich kann jetzt nicht loslassen, wenn ich nicht in 20 Jahren unangenehme Fragen beantworten will“, sagt Lötsch. Daher berichtet sie über ihr Leben als Kind in der DDR und setzt sich für Europa ein. Sie teilt regelmäßig Artikel, lädt zu Veranstaltungen ein und motiviert, mitzumachen. Wenn sie von ihren Projekten und Überzeugungen erzählt, redet sie viel. Es scheint, als ob sie gar nicht aufhören kann. Ihre Hände zeichnen noch einmal das nach, was sie erzählt. Christiane Lötsch ist zur Vermittlerin zwischen den Systemen geworden.
Dass es überhaupt dazu gekommen ist, liegt auch daran, dass sie auf das Französische Gymnasium gegangen ist. Ihr Vater sei zunächst skeptisch gewesen. Aber als der damalige Rektor bei einem Vorgespräch sagte, dass niemand den Faschismus vergessen dürfe und Politiker wie Ernst Thälmann oder die Widerstandskämpferin Klara Schabbel wichtig seien, änderte ihr Vater seine Meinung. Und Lötsch besucht schließlich die Schule. Täglich bringt sie der Bus der Linie 100 quer durch die Stadt zum Tiergarten. Für die nächsten Jahre sollte dieser Bus ihre Verbindung von Ost nach West sein.
Von der Schule aus erschließt sie sich den Westen der Stadt. Lötsch wird nie vergessen, wie sie das erste Mal bei einem Schulkameraden aus dem Westen war. „Der wohnte in der Spichernstraße. Die hatten so eine Altbauwohnung. Über zwei Etagen verlief die. Wirklich so ellenlange Flure, wo ständig irgendwelche Zimmer abgingen und man wusste überhaupt nicht, wo führt dieser Flur jetzt hin. Das fand ich schon echt…“ Sie muss lange überlegen, macht mehrmals den Mund auf und schließt ihn wieder. Und dann muss Lötsch lachen. Kleine Fältchen bilden sich um ihre Augen, ihr ganzer Körper schüttelt sich. Es dauert eine Weile, bis sie das Erlebnis in Worte fassen kann. Am Ende sagt sie, im Vergleich zum Plattenbau sei das einfach krass gewesen.
Doch die Schule ist nicht nur ein Ort, der ihr Westberlin näherbringt sondern Europa, die ganze Welt. „Ich will da nicht bleiben, ich will raus und die Welt ist groß, ich will das alles sehen“, dachte sie damals. In der Schule gehören neben den Berliner Kindern auch Kinder aus Frankreich oder aus den ehemaligen französischen Kolonien zu ihren Schulkameraden. Sie lernt eine Sprache, die keiner in ihrer Familie spricht. Heute spricht Lötsch nicht nur fließend Französisch, sondern auch Englisch und Portugiesisch. Immer wieder mischt sie französische Wörter ins Deutsche. Zur Begrüßung verteilt sie Küsschen. Sie arbeitet mit Menschen aus ganz Europa zusammen.
Pilze sammeln statt feiern
Ihre Familie, glaubt sie, verstehe bis heute nicht ganz, was sie macht. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sie sich für eine differenzierte Darstellung der DDR und für Europa engagiert. Sie war es auch, die ihre Familie dazu überredete, nach dem Mauerfall nach Westberlin zu fahren. Erst Monate nach der Grenzöffnung fuhren sie einmal zum Kurfürstendamm und gingen ins Café Kranzler.
An den Tag der Wiedervereinigung kann sie sich nicht erinnern. Sie weiß aber, dass sie nicht vor dem Reichstag gestanden, die Nationalhymne gesungen und die Deutschlandfahne geschwenkt haben. Im Gegenteil. Während alle anderen jubelten, habe ihre Familie das Ereignis eher mit einem Gefühl der Ohnmacht und Enttäuschung erlebt. Heute glaubt sie, ihre Familie habe damals schon vorhergesehen, was das wirtschaftlich für viele Menschen im Osten bedeuten würde. „Natürlich waren damit auch die Überzeugungen meiner Eltern komplett vom Tisch. Es gab einfach eine Leerstelle. Die wurde nie wieder richtig gefüllt“, sagt sie.
Während die anderen in den Jahren danach regelmäßig die Wiedervereinigung feiern, sucht Lötsch mit ihrer Familie Pilze im Wald. Immer am dritten Oktober. Immer an derselben Stelle. Sie glaubt, dass ihr Vater das auch aus Protest gemacht habe. Sie selbst macht sich nichts aus diesem historischen Datum. Für sie ist der Tag eine Erinnerung an einen Familienausflug, sagt sie lachend.
Fehlende Jobs, fehlende Perspektive
Sie kann jedoch die Reaktion ihres Vaters verstehen. „Der 9. November 1989 und der 3. Oktober 1990 alles gut und schön: Aber man muss gucken, was danach alles noch passiert ist. Wie die ganzen 90er Jahre hinein die Menschen mit dieser Transformation noch zu kämpfen hatten. Auch auf ganz vielen verschiedenen Ebenen“, sagt Lötsch. Für viele Menschen bedeuteten die politischen und sozialen Zäsuren auch Perspektivlosigkeit und Joblosigkeit.
So hat sich ihr Vater in den Vorruhestand versetzen lassen. Ihre Mutter machte aber noch Karriere als stellvertretende Amtstierärztin in Friedrichshain. Seitdem hat sich für ihre Familie nicht viel verändert. Ihre Mutter wohnt heute noch in derselben Wohnung. Ihre Geschwister leben in der Nähe. Ein Großteil der ehemaligen Nachbarn lebe noch immer dort. Und auch die Architektur sei noch immer dieselbe. Irgendwann in den 1990ern seien die Gebäude einmal gestrichen worden. Nur Lötsch wohnt nicht mehr dort. Aber sie erzählt anderen von ihrer Kindheit in dem Plattenbau und in der DDR. Alles, um das Bild der DDR um eine alltagsweltliche Perspektive zu erweitern.
Titelbild: Privat.
1 Kommentar
Ich kann sehr gut nachvollziehen, was Christiane hier erzählt. Ich heiße Sascha, bin mit ihr in dem Wohngebiet aufgewachsen und jahrelang mit ihr mit dem 100er zur Schule gefahren. Ich freue mich sehr über ihr Engagement!